Tetiana Shestopalova ist Professorin an der ukrainischen Partneruniversität der Saar-Universität in Mykolajiw. Derzeit forscht und lehrt sie in Saarbrücken. Kürzlich besuchte sie die Ukraine und berichtet nun nach ihrer Rückkehr über das Alltagsleben in Mykolajiw – einer Stadt, die sich 2022 gegen die russische Armee verteidigen konnte und sich nun weiterhin wenige Dutzend Kilometer von der Frontlinie entfernt behaupten muss.
Tetiana Shestopalova hat hier aufgeschrieben, wie sie Mykolajiw unter Kriegsbedingungen erlebt hat. In ihrem Bericht sind ukrainische Webseiten verlinkt, auf denen man sich über Fotos und Videoaufnahmen ein Bild von der Situation in Mykolajiw machen kann:
„Würde eine außenstehende Person, die nichts über den von Russland entfesselten Krieg in der Ukraine weiß, heute in Mykolajiw ankommen, so könnte es ihr für kurze Zeit entgehen, dass diese Stadt ein wichtiger Verteidigungsposten des ukrainischen Südens gegen die russischen Angreifer ist. Auf den ersten Blick scheint das Leben in Mykolajiw normal zu verlaufen: Der öffentliche Nahverkehr funktioniert, Taxis sind verfügbar, Supermärkte sind geöffnet und in den Straßen und Parks sieht man viele Kinder und Erwachsene. Vom 5. bis 7. September fand sogar das „Street Music Fest Mykolaiv“ statt. All dies verdankt die Stadt jedoch der tapferen ukrainischen Armee, die nun schon im vierten Jahr die russischen Streitkräfte aufhält.
Luftalarme und Kriegsrealität
Die Luftalarme, die Tag und Nacht mehrmals laut und gespenstisch heulen, sind das erste, was an die ständige Gefahr erinnert, die Mykolajiw umhüllt ─ sie holen einen rasch in die Kriegsrealität zurück. Bald fallen einem als Besucher die zerstörten und beschädigten zivilen Gebäude ins Auge sowie die vielen mit Sperrholz vernagelten Fenster, die seit 2022 durch Explosionsdruck herausgerissen wurden.
Im August dieses Jahres zerstörte allein eine russische Rakete sechs Häuser, riss über 90 Dächer ab und beschädigte 760 Fenster. Seit 2022 hat Mykolajiw Hunderte von Beschüssen mit Mehrfachraketenwerfern und anderen Waffen erlitten. Sie haben die Architektur der Stadt schwer beschädigt und Dutzende Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert – sowohl unter den Einheimischen als auch unter jenen, die aus besetzten oder frontnahen Gebieten Zuflucht gefunden haben.
[Hier berichten Augenzeugen auf einer News-Webseite von den Zerstörungen in Mykolajiw am 2. August 2025: https://suspilne.media/mykolaiv/1081829-ocevidci-rozpovili-pro-vecirnu-ataku-po-mikolaevu/ und hier sind die Zerstörungen an der Nationalen Petro-Mohyla-Schwarzmeer-Universität in Mykolajiw im Jahr 2022 zu sehen: https://suspilne.media/mykolaiv/281245-zbiraut-grosi-na-vidnovlenna-pisla-obstriliv-mikolaivskij-universitet-zvernuvsa-po-dopomogu/]
"Aktuell müssen viele Menschen in der Ukraine aufgrund der ständigen Angriffe der russischen Armee auf das ukrainische Stromnetz viele Stunden am Tag und in der Nacht ohne Strom verbringen."
Schutzräume und Schulalltag
Um die Zahl der Opfer so gering wie möglich zu halten, gibt es an vielen Haltestellen des öffentlichen Verkehrs Betonschutzräume, die vor Splittern schützen. Bis zum 1. September dieses Jahres erhielten 45 Schulen, 39 Kindergärten und vier außerschulische Bildungseinrichtungen neue oder modernisierte Schutzräume – doch der Bedarf bleibt hoch.
Luftalarme dauern oft eine Stunde oder länger. In den Schutzräumen der Schulen und Kindergärten gibt es Licht, Belüftung, sanitäre Einrichtungen, medizinische Ecken sowie Bereiche für Unterricht, Spiele und Erholung. Die Ausstattung dieser Schutzräume wurde von der Organisation SavED in Zusammenarbeit mit der LEGO Foundation und dem Königreich Dänemark ermöglicht.
Doch stellen Sie sich vor, wie belastend es für die Kinder ist, dreieinhalb Jahre lang keinen erholsamen Schlaf zu haben, ständig von Sirenen und Angriffen geweckt zu werden, den Unterricht nicht in normalen Klassenzimmern, sondern in unterirdischen Räumen zu besuchen, mit dem Verlust von Angehörigen oder Freunden zu leben, die durch russische Bomben, Granaten oder Kugeln getötet wurden – und gezwungen zu sein, schneller erwachsen zu werden, um in der harten Realität des Krieges zu überleben. [Hier sind Fotos von den unterirdischen Schulräumen zu sehen: https://nikvesti.com/news/public/309741-ukryttya-v-shkoli-centralnomu-rayoni-mykolayeva-2024]
Ökologische Herausforderungen
Auch ökologische Probleme spielen eine bedeutende Rolle. Im Jahr 2022 zerstörte die russische Armee das städtische Wasserversorgungssystem. Der Bau einer neuen Wasserleitung, die Trinkwasser in die Haushalte zurückbringen soll, ist im Gange. Bis dahin holen Erwachsene und Kinder Trinkwasser an speziellen Ausgabestellen und tragen es in Flaschen nach Hause.
Tiere und Menschlichkeit
Mykolajiw hat viele Tiere aufgenommen, die von Soldaten und Freiwilligen aus den Kampfgebieten evakuiert wurden, sich verirrten oder von ihren Besitzern zurückgelassen werden mussten, sowie Tiere, die nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms im Sommer 2023 vor der Flut gerettet werden konnten.
In der Stadt finden regelmäßig Wohltätigkeitsausstellungen statt, bei denen die vorübergehend in Tierheimen untergebrachten Tiere neue liebevolle Besitzer finden – Menschen, die bereit sind, ihnen zu helfen, den Stress zu überwinden, der durch Alarme, Explosionen, tödliche Fluten und das Zurücklassen verursacht wurde.
[Hier sind Fotos von verlassenen Haustieren zu sehen https://nikvesti.com/news/public/309091-u-korablelnomu-rayoni-mykolaieva-vystavka-prylashtuvannia-tvarin]
Leben zwischen Normalität und Krieg
Mykolajiw kann man also nur kurzzeitig mit einer friedlichen Stadt verwechseln. Die häufigen Alarme, die sorgenvollen Gesichter der Menschen, die Plakate und interaktiven Tafeln mit den Porträts gefallener ukrainischer Verteidiger und die Menschen in Militäruniformen auf den Straßen holen einen schnell in die Kriegsgegenwart zurück.
Die Stadt wirkt sehr müde, aber besonnen. Im vierten Kriegsjahr muss man diszipliniert und organisiert bleiben. Die städtischen Dienste – also dieselben Einwohner Mykolajiws – bereiten das Heizsystem auf die Wintersaison vor, reparieren Straßen, säubern nach Angriffen die Straßen und betroffenen Stadtteile schnell und gründlich. Busse und Züge fahren pünktlich, sofern sie nicht durch russische Drohnen oder Raketen gestoppt werden. Kinder gehen zur Schule, auch wenn sie unter ständiger Gefahr aufwachsen, junge Menschen treffen Entscheidungen unter Berücksichtigung der Kriegsumstände.
Solidarität und Widerstandskraft
Mykolajiw erhält nicht nur Hilfe von verschiedenen – oft ausländischen – Spendern (darunter deutsche Bundesländer und französische Departements), sondern unterstützt auch andere frontnahe Städte und Dörfer.
In der letzten Nacht meines Aufenthalts in Mykolajiw erklangen erneut Alarmsirenen in der Region. Russische Drohnen griffen ein nahegelegenes Dorf an, zerstörten ein Haus und verletzten einen älteren Mann.
Aktuell müssen viele Menschen in der Ukraine aufgrund der ständigen Angriffe der russischen Armee auf das ukrainische Stromnetz viele Stunden am Tag und in der Nacht ohne Strom verbringen. Für Millionen bedeutet dies, dass sie keine Mahlzeiten zubereiten können, keine Kommunikationsmöglichkeiten haben und andere grundlegende Voraussetzungen für das Alltagsleben fehlen.
Der Krieg geht weiter. Das ukrainische Mykolajiw kämpft ums Überleben.“
Zur Person
Tetiana Shestopalova ist Doktorin der Philologie und Professorin an der Nationalen Petro-Mohyla-Schwarzmeer-Universität in Mykolajiw, Partneruniversität der Universität des Saarlandes. Im Frühjahr 2022, während der großangelegten russischen Invasion in die Ukraine, lud Professorin Astrid Fellner die Wissenschaftlerin an den Lehrstuhl für Nordamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften nach Saarbrücken ein. Derzeit ist Prof. Dr. Tetiana Shestopalova Stipendiatin der Gerda Henkel Stiftung und unterrichtet die Wahlfächer „Ukraine in Europe: Culture, Borders, Identity“ und „Decolonizing Ukraine: Narratives and Literature“ an der Saar-Universität.