Studienreise nach Italien
Geschichte hautnah

An historischen Schauplätzen in die Geschichte eintauchen, originale Urkunden und Handschriften mit eigenen Augen betrachten: Bei Exkursionen begegnen Historikerinnen und Historiker der Vergangenheit hautnah. Die Professorin für Geschichte des Mittelalters Cristina Andenna begab sich mit ihren Studierenden in Norditalien auf Spurensuche: Bibliotheken und Archive in Verona, Padua und Venedig waren ihr Ziel.

Jahrhundertealte Bibliotheken und Archive in Padua, Verona und Venedig waren Ziel der Exkursion von Prof. Cristina Andenna (2.v.r.) und ihrer Studierenden. / Foto: Sascha Keßler

 

„Außer Veronas Mauern ist keine Welt“ ­– dass Shakespeare Romeo hier auf seine Julia treffen ließ, machte die Stadt im Norden Italiens weltberühmt. Verona ist aber auch überaus reich an echter Geschichte. Antike Monumente wie das römische Amphitheater, mittelalterliche Türme, Kirchen, Plätze und zahllose imposante Denkmäler zeugen von einer bewegten Vergangenheit und fügen sich zu einem malerischen Stadtbild. Originale Handschriften und Urkunden auf Pergament von unschätzbarem historischem Wert verwahrt die Biblioteca Capitolare: eine der ältesten Bibliotheken der Welt – und ein Eldorado für die Gruppe von Studentinnen und Studenten, die sich mit der Mittelalter-Expertin Cristina Andenna für acht Tage auf historische Expedition in Norditalien begab.

„Die Biblioteca Capitolare liegt im Domkomplex im Herzen von Veronas Altstadt, der sich auf den Überresten frühchristlicher Basiliken erhebt“, sagt die Professorin. Im sechsten Jahrhundert nahm die Bibliothek als Skriptorium, als Schreibwerkstatt, ihre Arbeit auf, häufte Manuskripte an und hat auch nach Erfindung des Buchdrucks nie damit aufgehört. Und auch die Studierenden nahmen hier, wo schon Dante und Petrarca ein und aus gingen, kostbare Handschriften in Augenschein, die Cristina Andenna für sie im Vorfeld ausgewählt und zur Besichtigung bestellt hatte.

„Wir sahen wundervolle illuminierte Handschriften und ältere Vordrucke, besuchten auch weitere Bibliotheken wie die Biblioteca Marciana in Venedig, die von Kardinal Bessarion 1468 gegründet wurde“, sagt Cristina Andenna. Die Biblioteca Marciana zählt zu den größten Nationalbibliotheken Italiens, ihr monumentaler Renaissancebau befindet sich im Süden des Markusplatzes, gegenüber des Dogenpalastes. „Sie ist eine der weltweit wichtigsten Sammlungen für griechische, lateinische und orientalische Handschriften“, berichtet die Professorin.

 

 

Das eigentliche Ziel der Exkursion lag aber nicht in diesen jahrhundertealten Bibliotheken, sondern vielmehr in den Archiven von Padua, Verona und Venedig: Die Studierenden wollten dort mittelalterliche Urkunden in Augenschein nehmen und erforschen, die im Wintersemester 2022/23 im Mittelpunkt einer Lehrveranstaltung von Cristina Andenna standen.

„Urkunden zählen zu den Quellen schlechthin, um zu ergründen und zu verstehen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Durch sie vergaben Kaiser, Könige und Päpste Privilegien; Privatleute regelten mit ihnen ihre Rechtsgeschäfte“, erklärt Cristina Andenna. Urkunden überliefern aus dem Dunkel der Jahrhunderte, was ihre Aussteller für so wichtig hielten, es schriftlich festzuhalten. Da geht es um mehr oder weniger Weltbewegendes wie in den Urkunden von Kaisern und Königen, aber auch um den Verkauf von Besitztümern eines Nonnenkonvents oder etwa das Testament der Tochter von Marco Polo: eben solche Urkunden wurden für die Studierenden aus den Beständen der Archive in Padua, Verona und Venedig ans Licht gebracht.

 

"Urkunden zählen zu den Quellen schlechthin, um zu ergründen und zu verstehen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Durch sie vergaben Kaiser, Könige und Päpste Privilegien; Privatleute regelten mit ihnen ihre Rechtsgeschäfte."

Professorin Cristina Andenna

 

Derart unwiederbringliche, teils epochemachende Handschriften und Urkunden im Original zu sehen, ist auch für eingefleischte Historikerinnen und Historiker beeindruckend, die dann auch mal ins Schwärmen geraten. „Es ist etwas ganz Besonderes. Vor Ort in solch einer Umgebung solche Urkunde sehen zu können – da wird Geschichte greifbar“, sagt Daniel Kulms, der an der Universität des Saarlandes Geschichte und Englisch studiert. Er arbeitet als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters von Cristina Andenna – ebenso wie Florian Höh, der beipflichtet: „Wir haben uns im Vorfeld auf die Urkunden vorbereitet, wussten also, was uns erwartet. Und doch war es überraschend, wie schön die Pergamentstücke im Original sind, wie präzise geschrieben, wie aufwändig die graphischen Elemente gestaltet sind“, berichtet der Student, der Geschichte und Deutsch auf Lehramt studiert. „Das alles kommt in natura noch viel mehr rüber. Es ist kein Vergleich dazu, wenn man es gedruckt oder am Bildschirm sieht. Die Dokumente selbst vor Augen zu haben, macht das Ganze realer, man kommt der Geschichte wirklich hautnah“, sagt er.

 

Handschriften und Urkunden im Original erforschen zu können, war für die Studierenden eine besondere Erfahrung. / Foto: Sascha Keßler

 

Was solche Urkunden inhaltlich belegen, erforschen Historikerinnen und Historikern. Sie deuten die Texte vor ihrem geschichtlichen Hintergrund und ordnen das Geschriebene ein. Dabei werten sie auch zusammenhängende Urkundenbestände aus, etwa die Urkunden eines Klosters oder einer bestimmten Region. Dadurch entsteht ein immer genauerer Einblick in das, was dort einmal war, warum es so war, und wie es mit anderen Ereignissen zusammenhängt. So lässt sich das Leben in einem bestimmten Gebiet immer besser veranschaulichen und die geschichtliche Entwicklung auch in größeren Zusammenhängen immer besser verstehen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stoßen dabei immer wieder auch auf völlig neue Erkenntnisse – auch in bekannten Urkunden.

 

Professorin Cristina Andenna (r.) und die Studierenden Dunja Dvorzak, Florian Höh, Daniel Kulms (v.l.), die auch an ihrem Lehrstuhl arbeiten. / Foto: Sascha Keßler

 

„Ein Ziel unserer Studienreise war es, gemeinsam Urkundenlandschaften zu vergleichen“, erklärt Cristina Andenna. Der Begriff ist erklärungsbedürftig: Urkunden sind nicht selten, je nachdem, wann und wo sie gefertigt wurden, charakteristisch ausgestaltet. „An verschiedenen Orten, in verschiedenen Regionen und Herrschaftsverhältnissen haben sich unterschiedliche Urkundentraditionen entwickelt“, erläutert die Professorin. Die Dokumente enthalten zum Beispiel typische grafische Elemente und lassen sich dadurch abgrenzbaren Urkunden- und Schriftlandschaften zuordnen: Das wird wichtig, etwa wenn Urkunden nach Jahrhunderten andernorts wieder auftauchen. Königs- und Kaiserurkunden enthalten bestimmte Elemente, zum Beispiel solche, die der Urkunde besondere Autorität verleihen. „Wir wollten vergleichen, welche Charakteristika Urkunden in verschiedenen Regionen aufzeigen, wie diese entstanden sind und wie sie sich etabliert haben. Hierum ging es bereits in der universitätsübergreifenden gemeinsamen Lehrveranstaltung mit den Universitäten Leipzig, Graz und Padua, in deren Rahmen die Exkursion stattfand“, erläutert die Historikerin. „Unsere Idee war, den nicht etablierten Begriff der Urkundenlandschaften auf die Probe zu stellen, ihn zu hinterfragen, ob und inwieweit er überhaupt tauglich ist.“

 

Hautnah am Original: Einzigartiges Zeugnis der Vergangenheit. / Foto: Sascha Keßler

 

Neben den sieben Studentinnen und Studenten aus dem Saarland nahmen weitere aus Leipzig, Graz und Padua an der Studienreise teil. Cristina Andenna forschte und lehrte in Padua, Potenza und Matera, Dresden, Trier und Graz, bevor sie 2022 den Ruf nach Saarbrücken annahm. Sie hat ein großes wissenschaftliches Netzwerk, von dem ihre Studierenden jetzt profitieren. „Wir haben die Mobilitätsförderung im Rahmen des Erasmus+-Programms der Europäischen Union genutzt, um unserer spannenden Forschungsfrage zu den Urkundenlandschaften nachzugehen“, sagt sie.

 

Und so machte sich eine bunte Truppe von 35 deutschen, österreichischen und italienischen Studierenden auf zur Spurensuche in norditalienischen Archiven und Bibliotheken. Dieser Ansatz war ein voller Erfolg. „Wenn Geschichtsstudierende aus unterschiedlichen Universitäten und Ländern zusammenkommen, miteinander philosophieren und alle möglichen Mittelalter-Perioden durcharbeiten können, da kann es nur erfolgreich werden“, sagt Daniel Kulms lachend. Seine Studienkollegin Dunja Dvorzak, die Geschichte im Hauptfach und Englisch im Nebenfach studiert, sieht es genauso: „Wir sind als Gruppe schnell zusammengewachsen, der Austausch über die Urkunden und die wundervollen Handschriften, die wir gesehen haben, und auch die atemberaubende Kunst und Architektur in Verona, Padua und Venedig: Das war wirklich bereichernd. Wir haben versucht, in den acht Tagen so viel wie möglich zu sehen“, erzählt die Studentin, die an Andennas Professur im Projekt „Regesta imperii“ mitarbeitet: In diesem Projekt, an dem seit vielen Jahrzehnten mehrere Universitäten zusammenarbeiten, erfassen und erforschen Historikerinnen und Historiker sämtliche urkundlich oder in sonstiger Form belegten Aktivitäten römisch-deutscher Könige, Kaiser und auch einiger Päpste des Mittelalters. Auf dem Saarbrücker Campus geht es dabei um die reiche Überlieferung von Kaiser Heinrich VII. (1308-1313).

 

Das Baptisterium in Padua. / Foto: Sascha Keßler

 

In Padua, einer quirligen Studentenstadt, besichtigten die Studierenden das Baptisterium mit seinen Fresken, die sämtliche Wände und die riesige Kuppel bedecken. In der Cappella degli Scrovegni betrachteten sie die weltberühmten Fresken von Giotto. An der Universität Padua, wo auch Professorin Andenna forschte, besuchte die Gruppe den – im Wortsinn – „Lehrstuhl“ von Galileo Galilei, der von 1592 bis 1610 dort Professor war: Der Begriff „Lehrstuhl“ hat seinen Ursprung im „Lesestuhl“, einem erhöhten Pult, von dem aus Professoren zu ihren Studenten sprachen. „Wir haben das Holzpult, an dem Galileo seine Vorlesungen hielt, im Saal der Vierzig im Palazzo del Bò der Universität Padua gesehen“, sagt Dunja Dvorzak. Mit einem von Galileos Lendenwirbeln ist – etwas morbid-makaber – auch heute noch ein Teil von ihm an der Universität Padua verblieben und ausgestellt.

Im nur einen Steinwurf von Padua entfernten Venedig studierte die Gruppe auch die Charakteristika berühmter originaler Karten aus dem Spätmittelalter, die ihnen im Museo Correr zur eingehenden Betrachtung vorgelegt wurden. Die Faszination, der Geschichte hautnah gegenüberzustehen, wird auch hier wieder in den Erinnerungen der Studierenden wach.
 

In Venedig sahen die Studierenden berühmte Karten aus dem Spätmittelalter. / Foto: Sascha Keßler

 

„Geschichte hat mich schon immer interessiert, ich bin erblich vorbelastet, mein Vater ist Geschichtsfan“, sagt Daniel Kulms. „Wenn ich es mit der Schule vergleiche, ist Geschichte an der Uni eine ganz andere Welt, erheblich vielfältiger. Man kann seine Schwerpunkte setzen, sich aussuchen, worauf man den Fokus legen will, welche Zeit einen wirklich interessiert“, erklärt er. "In der Schule ging es oft mehr um Auswendiglernen, der Fokus lag auf der nahen Geschichte. Natürlich ist es wichtig zu wissen, wann was passiert ist. Aber im Studium erhält man einen umfassenderen Blick und entdeckt viel, was man zuvor nicht auf dem Plan hatte“, ergänzt Florian Höh. „Die Geschichte an der Uni hat ein völlig anderes Niveau“, pflichtet auch Dunja Dvorzak bei. „Hier gehen wir Entwicklungslinien nach und betrachten die Ereignisse kritisch daraufhin, wie sie entstehen und welche Konsequenzen sie haben. Interessant wird es gerade, wenn man die großen Zusammenhänge herausarbeitet, um zu verstehen, wieso es heute ist, wie es ist“, sagt die Studentin.

Für ihre nächste Exkursion plant Cristina Andenna, sich mit ihren Studierenden auf die Spuren der Staufer in Süditalien zu begeben. „Wir wollen den Erasmusaustausch fortsetzen, und pflegen intensiven Austausch und Kooperationen mit vielen Kolleginnen und Kollegen insbesondere aus Italien, aber auch aus weiteren europäischen Ländern. Im Rahmen der EU-geförderten Europäischen Hochschule Transform4Europe, an der die Universität des Saarlandes mit neun Partnerhochschulen beteiligt ist, planen wir außerdem mit bulgarischen Partnern auch eine Exkursion nach Bulgarien“, sagt die Historikerin, zu deren Forschungsschwerpunkten die Institutionen- und Herrschaftsgeschichte des Mittelmeerraumes, insbesondere Süditaliens zählt. „Die Prozesse, wie sich Herrschaften veränderten und mit welchen Strategien dies geschah, bieten sehr spannende Forschungsthemen“, sagt sie.

Auch die Geschichte religiöser Gemeinschaften und Orden im europäischen Mittelalter steht im Mittelpunkt ihrer Forschung. „Diese Vernetzungen innerhalb und außerhalb der Kirche sind wichtige Elemente, die das Mittelalter stark geprägt haben. Sie hatten großen Einfluss auf die städtische und höfische Welt – und umgekehrt. Es gab kontinuierliche Wechselwirkungen zwischen diesen Welten“, sagt die Professorin. „Viele Gebiete gerade auch in der Betrachtung des religiösen Lebens von Frauen sind noch wenig erforscht“, sagt sie. Andenna beleuchtet die Spielräume adeliger Frauen im öffentlichen Handeln, die mitunter überraschend groß sein konnten, auch analysiert sie die Rolle von Königinnen als Regentinnen oder Herrscherinnen im europäischen Kontext. Aber auch Fragen von Mobilität und Migration im Mittelalter sind Gegenstand ihrer Arbeit. „Mit all diesen Forschungsfeldern tragen wir auch bei zum Europa-Schwerpunkt der Universität. Indem wir die Geschichte beleuchten, können wir das Verständnis für Europa erweitern“, erklärt Cristina Andenna.

In all diese und zahlreiche weitere Themen der verschiedensten Epochen können Geschichtsstudierende an den vielseitigen Lehrstühlen des Historischen Instituts der Universität des Saarlandes eintauchen, dort ihre eigenen Schwerpunkte setzen, und so völlig neue Gebiete der Vergangenheit für sich entdecken – und auf diesem Weg auch hier auf dem Saarbrücker Campus der Geschichte hautnah kommen.

Text:Claudia Ehrlich / Fotos: Sascha Keßler
Claudia Ehrlich / Fotos: Sascha Keßler
09.08.2023

Auch Venedig war Ziel der Exkursion: Hier besuchte die Gruppe die Biblioteca Marciana gegenüber dem Dogenpalast und das Museo Correr. / Foto: Sascha Keßler

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Cristina Andenna ist seit Oktober 2022 Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Universität des Saarlandes. Zu den Schwerpunkten ihrer Forschung zählen die Geschichte religiöser Gemeinschaften im europäischen Mittelalter sowie die Institutionen- und Herrschaftsgeschichte des Mittelmeerraumes, insbesondere Süditaliens und des Heiligen Landes. Sie erforscht unter anderem auch Spielräume des öffentlichen Handelns adeliger Frauen und die Rolle von Königinnen als Herrscherinnen eigenen Rechts oder von Regentinnen sowie Fragen von Mobilität und Migration.

Professorin Christina Andenna und ihre Studierenden nehmen Urkunden in Augenschein.

Fotos: Sascha Keßler

Informationen zur Fachrichtung Geschichte an der Universität des Saarlandes

Lehrstuhl von Professorin Cristina Andenna