Europawissenschaften
Die Metropole Paris als Studienobjekt

Eine Exkursion nach Paris führte Katharina Scheurer und weitere Studierende bis in berühmt berüchtigte Pariser Vororte. Themenschwerpunkte und konkrete Ziele legten die Studierenden selbst fest. In den Europawissenschaften gehört eine solche Exkursion im Geographie-Schwerpunkt zum Pflichtprogramm.

Katharina Scheurer (3.v.l. vorne) hat bei der einwöchigen Exkursion ganz unterschiedliche Facetten von Paris kennengelernt. Foto: Dittel

Vor ihrer einwöchigen Studienreise hatte Katharina Scheurer den üblichen Touristenblick auf Paris. „Von früheren Besuchen kannte ich Sacré-Coeur, den Tour Eiffel, die typischen Haussmann-Fassaden und natürlich das Klischee der ‚Stadt der Liebe‘“, erzählt die Studentin, die den Bachelor Europawissenschaften mit Schwerpunkt „Geographien Europas“ absolviert. Sie hatte sich vorher aber keine Gedanken darüber gemacht, warum sich die Touristenmassen auf wenige markante Orte in Paris konzentrieren. Dieses als „Overtourism“ bezeichnete Phänomen, das auch in vielen anderen Metropolen Einheimische aus der Innenstadt vergrault, war nur eines der breit gefächerten Exkursionsthemen. „Wir haben zuerst einen Blick in die Geschichte geworfen und analysiert, wie sich Paris im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat. Dafür sind wir unter anderem in zwei Gruppen links und rechts einer Straße entlanggegangen und haben uns gegenseitig beschrieben, wie die Fassaden historisch einzuordnen sind“, erzählt Katharina Scheurer. Zudem rezitierten sie kurze Texte aus historischen Quellen und ließen die jeweils andere Gruppe erraten, ob diese von Adligen, Kaufleuten oder Bauern stammten.

Wie die jüngere Zeitgeschichte in Paris ganze Stadtviertel prägt, konnten die Studierenden erfahren, als sie sich mit der kolonialen Vergangenheit Frankreichs befassten. „Im Norden von Paris gibt es Gegenden mit einem Ausländeranteil von rund 20 Prozent und mehr, viele stammen aus den früheren französischen Kolonien in Afrika. Im Viertel La Goutte d’Or, das auch als Little Africa bezeichnet wird, hat man auf den Gewürzmärkten und in kleinen Modegeschäften den Eindruck, man wäre in Tunis oder Dakar“, berichtet die Studentin. Diese Multi-Kulti-Atmosphäre prägt auch die Stadt Saint-Denis vor den Toren Paris, die im kommenden Jahr als einer der Austragungsorte der Olympischen Sommerspiele stärker ins Blickfeld rücken wird. „Dort haben wir uns nicht nur mit sozialen Herausforderungen wie erhöhter Arbeitslosigkeit beschäftigt, sondern konnten auch Coworking Spaces besuchen, in denen junge Unternehmen in einer hippen Umgebung versuchen, Neues aufzubauen“, erzählt Katharina Scheurer.

Die Studierenden übernahmen die Exkursionsleitung, was enorme Lerneffekte erzeugte.

Florian Weber, Juniorprofessor für Europastudien

Solche besonderen Orte hatten die Studierenden zuvor selbst recherchiert. Ein Semester lang bereiteten sie sich mit Theorien und Konzepten auf die Exkursion vor und überlegten, welche thematischen Schwerpunkte am besten auf die einzelnen Stadtviertel übertragen werden können. „Die großen Themen wie Paris als Global City oder die Rolle der Banlieues, die sowohl bürgerliche Vororte als auch soziale Brennpunkte umfassen, waren vorher gesetzt. Den Zeitplan und die Marschroute durch Paris und sein Umland haben die Studierenden aber selbst frei gestaltet und vor Ort in Eigenregie mit Vortragselementen und verschiedenen spielerischen Aufgaben umgesetzt, um eine interaktive Exkursion zu schaffen. So wurden die Studierenden von der Rolle der Zuhörenden in die aktive Rolle der Exkursionsleitung gebracht, was enorme Lerneffekte erzeugte“, erklärt Florian Weber, Juniorprofessor für Europastudien der Saar-Universität, der das Seminar mit Exkursion konzipiert und betreut hat. Er war beeindruckt, mit wieviel Phantasie und Kreativität die Studierenden das jeweilige Tagesprogramm angingen. Nach der schwierigen Corona-Zeit war es für die meisten der erste intensive Austausch mit den Kommilitonen im selben Jahrgang.

Die Exkursion bot den Studierenden auch die Möglichkeit, die einzelnen Teilbereiche der Europawissenschaften wie Geographie, Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft gebündelt auf die Metropole Paris anzuwenden. „Wie durch ein Brennglas konnten sie die Entwicklungsschübe und heutigen Herausforderungen einer Metropolregion wahrnehmen und das theoretische Wissen direkt in der Praxis anwenden“, unterstreicht Florian Webers Kollegin Julia Dittel, die die Exkursion mitbegleitete. Dies war etwa beim Thema Entlastungsstädte der Fall, ein eher sperriger Begriff für eine bedeutsame Pariser Stadtentwicklung. Dort hatte man in den 1960er Jahren große Vorortstädte buchstäblich auf der grünen Wiese außerhalb von Paris geplant und mit schnellen Regionalzügen angebunden, um die Innenstadt von der wachsenden Bevölkerung zu entlasten. „Wir sind dafür nach Marne-la-Vallée gefahren, wo in der Zwischenzeit der große Vergnügungspark Disneyland angesiedelt wurde und die Stadt entsprechend wohlhabend ist. Wenn man dort durch die ziemlich spießigen Wohngebiete geht, steht man plötzlich auf dem freien Feld. Die Stadt endet, bevor man zum Disneyland gelangt, zunächst abrupt im Nichts und wirkt insgesamt sehr künstlich. Diese Entwicklung lässt sich dann gut verstehen, wenn klar ist, dass zunächst mit einem viel größeren Bevölkerungswachstum gerechnet wurde, was nicht eingetreten ist – und damit nicht mehr so viel neuer Wohnraum benötigt wurde“, beschreibt Katharina Scheurer ihre Wahrnehmung vor Ort. Sie hat in der einwöchigen Exkursion einen völlig neuen Blick auf Paris bekommen, fernab der üblichen Touristenpfade und mittendrin in ihrem Studienfach.

Für die Teilnehmer der Exkursion, die üblicherweise im vierten Semester des Bachelor-Studiengangs „Europawissenschaften: Geographien Europas“ stattfindet, folgte danach das obligatorische Auslandssemester. Dafür stehen zum Beispiel Universitäten in Spanien, Italien, Frankreich oder Kroatien zur Wahl. Auch in Kaunas in Litauen mit Partner-Uni im europäischen Verbund Transform4Europe und im französischen Überseedepartment Martinique können Studierende der Europawissenschaft einen Auslandsaufenthalt absolvieren.

Für Juniorprofessor Florian Weber hat sich das Konzept der Paris-Exkursion so bewährt, dass er auch künftigen Bachelorstudierenden die Möglichkeit bieten will, auf so vielfältige Weise diese und andere Metropolen zu erkunden. „Es gibt noch viele Ecken in Paris, die auch ich nicht kenne. Ich bin gespannt, welche verborgenen, aber zugleich typischen Orten der nächste Jahrgang aufspüren wird“, sagt Florian Weber.

Text:Friederike Meyer zu Tittingdorf
Friederike Meyer zu Tittingdorf
13.07.2023
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