In Lindau am Bodensee treffen sich jedes Jahr handverlesene junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt mit Dutzenden Nobelpreisträgern. Beim Lindau Nobel Laureate Meeting geht es traditionell ungezwungen zu. Neben Fachvorträgen der Nobelpreisträger kann man die Wissenschaftler der Extraklasse auch beim Essen oder Spazierengehen treffen. Oder – zufällig – beim Tischtennis. So hat es Colya Englisch erlebt. Der Medizinstudent aus Homburg konnte dieses Jahr als jüngster in Lindau dabei sein.
Colya Englisch auf dem Campus des Uniklinikums in Homburg, wo er seit acht Semestern Medizin studiert. Foto: Thorsten Mohr
„Eigentlich wollte ich gerade mit einem Kollegen an die frische Luft gehen“, erzählt Colya Englisch. Der Kollege war ein junger Wissenschaftler, der wie Colya Englisch dieses Jahr eine Einladung für das Lindauer Nobelpreisträgertreffen hatte. Diese seltene Ehre erfahren pro Jahr nur ein paar Hundert Nachwuchswissenschaftler aus aller Welt. Der 20-jährige Medizinstudent aus Homburg erzählt, wie sein Kollege und er beim Spazierengehen eine Tischtennisplatte entdeckt haben. „Wir haben spontan beschlossen, noch ein bisschen zu spielen. Und dann kam Tim Hunt um die Ecke und hat eine Runde mitgespielt“, erzählt der junge Mann weiter.
Tim Hunt ist nicht etwa das Tischtennis-Nachwuchstalent, das Olympia 2024 aufmischen wird. Er ist einer der Nobelpreisträger für Medizin des Jahres 2001. Dass er gerade vorbeikommt, wenn zwei junge Männer, die ganz am Anfang ihrer Karriere stehen, eine Partie Tischtennis spielen wollen, und dass er dann auch noch mitspielen möchte, ist so wohl nur auf dem Lindauer Nobelpreisträgertreffen möglich. Jedes Jahr kommen hier, in den naturwissenschaftlichen Disziplinen Chemie, Physik und Medizin/Physiologie wechselnd, rund 30 bis 40 Nobelpreisträger ins beschauliche Lindau. Sie geben dem wissenschaftlichen Nachwuchs Einblicke in ihr Wissen, diskutieren mit ihnen – und spielen halt auch mal Tischtennis mit den jungen Kollegen, wenn ihnen danach ist.
„Das war schon ganz große Klasse“, schaut Colya Englisch auf die letzte Juniwoche zurück, in der das diesjährige Nobelpreisträgertreffen stattfand. Natürlich bezieht sich der Medizinstudent dabei nicht nur auf das Tischtennismatch mit Tim Hunt. Sondern auf die „kreative Atmosphäre“, wie er sagt, insgesamt. „Natürlich waren die Vorträge sehr interessant, und auch die Gelegenheiten, mit dem einen oder anderen Nobelpreisträger auch in der Kaffeepause einfach so zu sprechen, waren einmalig“, so der Student. Mit Christiane Nüsslein-Volhard, seit 1995 Nobelpreis-„geadelt“, konnte er einen „Science Walk“ absolvieren, bei dem die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit den großen Vorbildern spazieren gehen können.
Am interessantesten fand er ganz persönlich auch die Vorträge von Frances H. Arnold, die 2018 ihren Nobelpreis für die „gerichtete Evolution von Enzymen“ erhalten hat, sowie – ganz besonders – William G. Kaelin. Der Arzt wurde 2019 „für die Entdeckung molekularer Mechanismen der Sauerstoffaufnahme von Zellen“ geehrt. „Er hat eine klasse Vorlesung gehalten“, sagt Colya Englisch. Schließlich gehe es bei dem Treffen darum, zu inspirieren, zu motivieren. Das habe der US-Amerikaner Kaelin auf ganz besondere Weise geschafft.
„Aber extrem interessant war auch der Austausch mit meinen jungen Kolleginnen und Kollegen. Da waren ja hunderte – angehende wie etablierte – Ärzte und Wissenschaftler aus benachbarten Fächern oder Fachrichtungen“, berichtet Colya Englisch weiter. Für ihn, der noch nicht genau weiß, ob er nach Studium und Promotion als praktizierender Arzt oder weiter in der Forschung tätig sein will, ergaben sich zahlreiche Gelegenheiten, sich mit Leuten auszutauschen, die in einer ähnlichen Lebensphase wie er selbst stecken. Und die natürlich auch von weltweit renommierten Instituten wie der Harvard Medical School kommen. „Wenn da Leute aus Boston kommen, dann will man natürlich auch wissen, wie es da so ist“, erzählt Colya Englisch, dessen Weltoffenheit ihm buchstäblich in die DNA geschrieben wurde. Denn (es mag ironisch klingen): Englisch ist Franzose. Seine Eltern stammen aus Frankfurt, sind aber nach Nantes in Westfrankreich ausgewandert, wo Colya Englisch aufgewachsen ist. Seit vier Jahren lebt der junge Mann, der bereits im achten Semester Medizin studiert, fernab seiner Familie in Homburg, wo er mit großer Leidenschaft seinen akademischen Werdegang vorantreibt und nicht nur den deutschen „Dr. med.“ anstrebt, sondern gleichzeitig auch den angelsächsischen Grad „MD“ bzw. „PhD“ (Promotion in Medizin bzw. Naturwissenschaften) erwerben möchte, der in Homburg in einem englischsprachigen Programm angeboten wird.
Der Nobelpreis ist kein Ziel, auf das man hinarbeiten sollte.
Die Voraussetzungen für eine glänzende Wissenschafskarriere könnten kaum besser sein. Neugierig, klug, zielstrebig, diszipliniert, mehrsprachig, reiselustig: All das bringt Colya Englisch mit sich. Dass er irgendwann aber selbst für sein wissenschaftliches Lebenswerk eine goldene Medaille mit dem Antlitz Alfred Nobels in Händen halten wird, daran möchte er nicht recht glauben: „Der Nobelpreis ist kein Ziel, auf das man hinarbeiten sollte“, ist er sich sicher. „Unter den Zigtausenden jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die seit den 1950er Jahren hierhergekommen sind, werden allenfalls eine Handvoll späterer Nobelpreisträger gewesen sein“, taxiert er die Chancen, diese größte aller wissenschaftlichen Auszeichnungen zu erhalten. Dafür ist die wissenschaftliche Community zu groß, die Zahl der Preise zu limitiert. Zu viel Glück und Zufall seien dabei, die eine wissenschaftliche Karriere in diese oder jene Richtung beeinflussen könnten. „Aber die meisten werden sicherlich trotzdem großartige Wissenschaftler, auch ohne Nobelpreis“, so der realistische Blick des 20-Jährigen.
Wenn Colya Englisch so weitermacht, wird auch er zweifelsohne eine Zukunft in der Wissenschaft haben. Das dürfte genau so sicher sein wie die Tatsache, dass Tim Hunt in diesem Leben voraussichtlich auch kein Tischtennis-Olympiasieger mehr werden wird.
Hier hält Colya Englisch die Nobelpreis-Medaille von William G. Kaelin in den Händen. Der US-Amerikaner, der 2019 den Nobelpreis erhalten hat, hat den Medizinstudenten ganz besonders beeindruckt. Foto: Colya Englisch