Materialwissenschaft
Pipelines vor Schäden durch Wasserstoff bewahren

Mit „grünem“ Wasserstoff sollen energieintensive Unternehmen, etwa aus der Stahlindustrie, klimaneutral werden. Doch Wasserstoff hat einen Haken: Er sorgt dafür, dass Materialien, die mit ihm in Kontakt kommen, verspröden. Wasserstoff-Pipelines könnten dadurch beschädigt werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Saar-Universität suchen daher gemeinsam mit Dillinger nach einem besseren standardisierten Verfahren, um Materialien auf ihre Beständigkeit gegen Wasserstoff zu untersuchen.

Den Unterschied zwischen Wissenschaft und Gefühl macht Florian Schäfer, ohne es zu ahnen, bereits ganz zu Anfang des Gesprächstermins deutlich: Bevor es richtig losgeht, wird Kaffee aufgesetzt, und der Materialforscher diskutiert mit einem Kollegen, der ebenfalls Kaffee möchte, das richtige Verhältnis von Pulver und Wasser. Im Scherz sagt Florian Schäfer: „Ein eingefleischter Kaffeetrinker hat es im Gefühl, wieviel Pulver da reinkommt.“ Ginge er streng wissenschaftlich an die Zubereitung, hätte die Antwort vielleicht gelautet: „Laut Kaffee-Brühnorm 363/27 kommen 7,3 gehäufte Teelöffel auf 0,8 Liter Wasser, dann kommt das optimale Ergebnis raus.“

Im Kern umreißt diese Anekdote bereits sehr anschaulich das Grundproblem, um das sich Florian Schäfer gemeinsam mit Jonas Fell sowie den Professoren Christian Motz und Hans-Georg Herrmann in Zusammenarbeit mit Dillinger (Aktien-Gesellschaft der Dillinger Hüttenwerke)  in den kommenden drei Jahren kümmern wird: Wie könnte ein standardisiertes industrielles Prüfverfahren aussehen, das die Empfindlichkeit von Stahl auf Wasserstoff untersucht?

„Es gibt Prüfnormen für Druck- und Zugfestigkeit von Stählen und viele weitere genormte Prüfverfahren, denen sich ein neu entwickelter Stahl unterziehen muss, um für den Pipelinebau zugelassen zu werden“, erläutert Florian Schäfer. „Aber es gibt kein umfassendes standardisiertes Verfahren, um Stahl daraufhin zu untersuchen, wie er mit Wasserstoff reagiert“, erklärt der promovierte Materialwissenschaftler weiter. „Das Kernproblem dabei ist die sogenannte ‚Wasserstoffversprödung‘“, ergänzt Christian Motz. Der Professor für Experimentelle Methodik der Werkstoffwissenschaften erklärt weiter: „Dieses altbekannte Phänomen betrifft vor allem hochfeste Materialien wie zum Beispiel Pipeline-Stahl oder auch Stahldrähte in Spannbetonbrücken. Wenn sich Wasserstoff im Material anreichert, sinkt die Festigkeit des Materials und es können kleinste Schäden und Risse entstehen, die die Pipeline oder die Brücke ernsthaft gefährden können“, so der Wissenschaftler. „Obwohl man es schon lange kennt – seit dem 19. Jahrhundert –, wissen wir wenig, wie sich die Wasserstoffversprödung in hochkomplexen Werkstoffen wie modernen Stählen auswirkt“, führt Motz aus.

"Wir wissen wenig, wie sich die Wasserstoffversprödung in hochkomplexen Werkstoffen wie modernen Stählen auswirkt.“

Professor Christian Motz

Das liegt vor allem daran, dass Schäden durch Wasserstoffversprödung bisher nur am Rande ein Problem waren. An Schweißnähten oder durch Korrosion reichert sich Wasserstoff in geringen Mengen an, die nur sehr langsam zu Schäden führen können. In der Praxis stand das Problem bisher nicht im Vordergrund. Das soll sich nun ändern. Denn mit dem von Politik und Wirtschaft selbstbewusst formulierten Ziel, „grünen“ Wasserstoff als Energieträger der Zukunft für industrielle Prozesse in großem Maßstab einzusetzen, ändern sich bald auch die Größenordnungen von Wasserstoff, der vor allem in Pipelines anfällt.

In den kommenden drei Jahren haben die Wissenschaftler harte Nüsse zu knacken: „Wir versuchen zum einen herauszufinden, welche Prüfmethoden wirklich effizient sind. Bisher dauert es je nach Methode bis zu einem Jahr, bis ein Ergebnis vorliegt. Zweitens wollen wir herausfinden, wie wir Wasserstoff auf einem standardisierten Weg ins Material hineinbekommen“, erklärt Florian Schäfer. Diese „Beladungsmethoden“, wie Christian Motz sagt, sind höchst unterschiedlich: „Ich kann Wasserstoff elektrochemisch ins Material bringen oder durch Druckbeladung. Dafür setze ich ihn unter 200 bar Druck bei 200 bis 300 Grad Celsius. Das will man aber nicht im Labor haben“, macht er eindrücklich klar.

Der Fokus der Arbeiten am Lehrstuhl von Professor Hans-Georg Herrmann liegt im Auffinden der durch Wasserstoff verursachten Schäden und der Bewertung der Stähle. Dies gelingt mit Hilfe der Computertomographie (CT), einer Röntgentechnik, mit der man in Objekte hineinschauen kann, ohne sie zu zerstören. Damit kann das Team um Jonas Fell zum Beispiel Risse und Poren, die durch den Wasserstoff entstanden sind, analysieren. „Wir nutzen ein einzigartiges, hochmodernes Forschungsgerät, mit dem Strukturen in einer Größe von 50 Nanometer abgebildet werden können. Dies ist ungefähr tausendmal kleiner als die Dicke eines menschlichen Haares“, erklärt Jonas Fell. In Kombination mit einer zweiten Anlage lassen sich dadurch kleinste Schäden in den Stählen über mehrere Größenordnungen hinweg, vom Millimeterbereich bis zum Nanometerbereich, sichtbar machen. Anhand dieser umfassenden Analyse können die Forscher die Eignung der Stähle für den Einsatz in zukünftigen Pipelines bewerten.
Die zerstörungsfreie Methode erlaubt es zudem, noch einen Schritt weiter zu gehen und zeitliche Veränderungen, wie die Entstehung von Rissen und deren Wachstum, live zu beobachten. Dazu soll im Rahmen des Projekts ein spezieller Prüfaufbau entwickelt werden, mit dem die Stähle unter Einfluss von Wasserstoff mechanisch beansprucht und gleichzeitig mittels Röntgentechnik beobachtet werden.

Der Industriepartner Dillinger verspricht sich von der Kooperation, dass er in Zukunft auf dem Weltmarkt Stähle anbieten kann, die unempfindlicher gegen Wasserstoff sind und somit für die Transformation zur „Wasserstoffwirtschaft“ besser geeignet sind als bisherige Stähle: „Wir sind davon überzeugt, dass uns die Ergebnisse aus den Forschungsarbeiten wichtige Impulse zur Erarbeitung optimierter Stahldesigns für die Transformation und das Zeitalter ‚grüner‘ Wasserstoff geben werden“, erklärt Wolfgang Schütz, Leiter Forschung und Entwicklung Produkte bei Dillinger. Stefan Rauber, Vorstandsvorsitzender von Dillinger, sieht in der Partnerschaft eine wichtige Ergänzung der eigenen Forschungsarbeit: „Um die Stähle der Zukunft zu produzieren, setzt Dillinger auf eine eigene innovative Stahlforschung. Die Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes macht uns noch schneller und flexibler und verschafft uns Wettbewerbsvorteile auf dem zukunftsträchtigen Markt für Pipelines.“

Bei High-Tech-Produkten wie Stahl reicht es nicht aus, wenn man sie „nach Gefühl“ herstellt. Hier ist eine nachprüfbare, reproduzierbare sowie wissenschaftliche Prüfmethode Grundlage, um die Sicherheit und Funktionalität des Produkts, wie zum Beispiel einer Pipeline, zu gewährleisten. Das wollen Florian Schäfer, Christian Motz und ihre Kollegen Hans-Georg-Herrmann und Jonas Fell mit ihrer Arbeit gewährleisten. Anders in der Küche: Für den Kaffee reicht es durchaus, wenn Florian Schäfer ihn auch in Zukunft nach Gefühl macht. Denn der war sehr gut.

Text:Thorsten Mohr
Thorsten Mohr
Fotos: Thorsten Mohr
24.07.2023
Fotos:
Fotos: Thorsten Mohr
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Kontakt

Dr. Florian Schäfer
Experimentelle Methodik der Werkstoffwissenschaften

Projektförderung

In den nächsten drei Jahren fördert Dillinger im Rahmen eines Forschungsprojektes die beiden Lehrstühle mit insgesamt 800.000 Euro.