Exkursion
Auf den Spuren antiker Mythen

Mythen und Legenden aus Antike und Mittelalter beeinflussen die Gegenwart stärker als uns bewusst ist. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, begaben sich im Sommer Studierende aus Saarbrücken, Prag und Sofia mit ihren Dozentinnen und Dozenten auf Erkundungstour in Bulgarien. Neben viel Geschichte, Kultur und Austausch stand auch eine studentische Konferenz auf dem Programm.

Die Saarbrücker Exkursionsgruppe in Nikopolis-ad-Istrum. Foto: AG Andenna

 

Auf dem Gebiet des heutigen Bulgariens treffen seit Jahrtausenden Kulturen aufeinander. Thrakische, slawische, byzantinische, griechische, römische, osmanische, und auch persische Einflüsse formten die bulgarische Kultur – und hinterließen ihre Spuren in Mythen und Legenden. Diese aufzuspüren war Ziel der Reise, die Studierende dreier Länder und ihre Dozentinnen und Dozenten in dem Balkanstaat zusammentreffen ließ. Sein Territorium zählt zu den ältesten Siedlungsorten Europas, Funde belegen diese bis 6.500 vor Christus – viel Zeit also für Generation um Generation, alte Erzählungen weiterzutragen.

 

„Mythen und Legenden sind keine abgeschlossenen Erzählungen. Diese Geschichten beeinflussen und prägen auch unsere Gegenwart noch stark“, sagt Cristina Andenna, Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Universität des Saarlandes. Gemeinsam mit dem Professor für Alte Geschichte Heinrich Schlange-Schöningen und dessen Wissenschaftlichen Mitarbeiter Julian Kaltwasser bot sie im Sommersemester ein Seminar zu Ursprungs- und Gründungslegenden in Antike und Mittelalter an.

 

"Exkursionen sind sehr wertvoll für Studierende und auch für uns Wissenschaftler. Sie bieten eine sehr eindrückliche, unmittelbare Möglichkeit, sich in einem internationalen Rahmen intensiv mit Kolleginnen, Kollegen und Studierenden anderer Universitäten auszutauschen."

Cristina Andenna

 

Um das hier Erlernte für die Studierenden sogleich ganzheitlich erfahrbar zu machen, luden die Dozenten ein zu einer Exkursion – für Cristina Andenna wie Heinrich Schlange-Schöningen, die regelmäßig solche Lehrfahrten außerhalb des Seminarraums veranstalten, ein wichtiger Teil des Studiums. „Solche Exkursionen sind sehr wertvoll für Studierende und auch für uns Wissenschaftler. Sie bieten eine sehr eindrückliche, unmittelbare Möglichkeit, sich in einem internationalen Rahmen intensiv mit Kolleginnen, Kollegen und Studierenden anderer Universitäten auszutauschen“, erklärt Cristina Andenna, die viele internationale Forschungskooperationen pflegt.

 

Und so traf die Gruppe aus dem Saarland diesen Sommer im altehrwürdigen Konferenzsaal der Kliment-Ohridski Universität in Bulgariens Hauptstadt auf Dozentinnen, Dozenten und Studierende aus Sofia und auch der Prager Karls-Universität. Mehr als 30 Leute kamen zusammen.

 

An unterschiedlichen Orten begaben sie sich auf Spurensuche. Immer im Blick: Die Mythen und Legenden, denen sie aus verschiedenen nationalen Perspektiven auf den Grund gehen wollten. Im Nationalen Archäologischen Museum in Sofia etwa, das in einem ehemaligen Moscheebau untergebracht ist, nahmen sie den eindrucksvollen Bronze-Kopf Seuthes III aus hellenistischer Zeit in Augenschein. Er war Fürst des thrakischen Stammes der Odrysen im vierten vorchristlichen Jahrhundert. Auch der „Thrakische Reiter“ erregte ihr Interesse: Das gemeißelte Bild des mythischen und heldenhaften bewaffneten Reiters ist Gegenstand ungezählter Darstellungen und vereint griechische und römische Einflüsse. Die Wissenschaft vermutet in diesem „Thrakischen Heros“ die höchste Gottheit der Thraker. „Diese Figur hat mich beim Besuch der Museen fasziniert, wie die thrakische Geschichte im Allgemeinen“, sagt Lena Knaup, sie studiert Geschichtswissenschaften im Bachelor und ist Hilfskraft am Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters. Auch im Nationalen Historischen Museum, das Zeugnisse der bulgarischen Geschichte aus der Vorzeit bis hin in die Moderne zeigt, trafen die Studierenden auf die steinernen Reiter und zahlreiche thrakische Exponate.

 

 

„Ein Highlight bei den Stadtführungen durch Sofia waren die Überreste des spätantiken Serdica, wie Bulgariens Hauptstadt Sofia in der Antike genannt wurde. Sie liegen unter der gleichnamigen U-Bahn-Station“, sagt Heinrich Schlange-Schöningen, der unter anderem zur Geschichte der Spätantike forscht und lehrt. Über ein großes Areal verteilen sich die Reste der städtischen Wohnbebauung, öffentlichen Gebäude und Repräsentationsbauten bis hin zu den noch immer imposanten Überbleibseln der Stadttore. Auch die jüngere Architektur Sofias hinterließ bleibenden Eindruck: „Die Alexander-Newski-Kathedrale ist gerade mal etwas über hundert Jahre alt. Aber obwohl sie im Vergleich zu den antiken Ruinen jung ist, hat sie eine sehr erstaunliche, fast antike Stahlkraft“, schildert Batuhan Balkan, der auf dem Saarbrücker Campus Geschichte sowie Kunst- und Bildwissenschaft studiert. 

 

In Nikopolis ad Istrum gab es einige Inschriften zu entziffern. Prof. Heinrich Schlange-Schöningen half gerne dabei aus. Foto: Cristina Andenna

 

Ihr Weg führte die Reisegruppe auch außerhalb Sofias: etwa zur Bojana-Kirche aus dem 10. Jahrhundert, zu den Überresten der römischen Stadt Nikopolis ad Istrum und auch zum drei Stunden von Sofia entfernten „Ruhmreichen Veliko“, wie „Veliko Tarnovo“ übersetzt heißt. „Mich hat die große Bedeutung dieser Stadt für die mittelalterliche Geschichte Bulgariens besonders interessiert. Die Dynastie der Asseniden hatte sie zu ihrem Herrschaftsmittelpunkt gemacht“, sagt Florian Höh. Eine gewaltige Burganlage erstreckt sich denn auch über einen kompletten Bergrücken oberhalb des Flusses Jantra. „Die riesige Festungsanlage der bulgarischen Zaren mit dem Palast und der Patriarchenkirche, in der es wundervolle Fresken gibt, waren eindrucksvoll“, erinnert sich der Student, der Geschichte und Deutsch auf Lehramt studiert und auch an Andennas Lehrstuhl arbeitet.

 

„Festung, Kirche und Palast galten für die bulgarische Geschichte als Symbole des Widerstandes gegen Byzanz und vor allem gegen die Osmanen. Es ist ein nach wie vor symbolisch aufgeladener Ort, worauf auch große Reitermonumente für die mittelalterliche Asseniden-Dynastie in der Schleife des Jantra hinweisen, die im Jahr 1985 errichtet wurden“, erklärt Cristina Andenna. Mythen und Legenden ranken sich auch um den 1218 dort in Gefangenschaft verstorbenen Kaiser des sogenannten Lateinischen Kaiserreiches von Konstantinopel, Balduin I.

 

Die Geschichte Bulgariens unter der Assen-Dynastie wird in der von den Osmanen zerstörten, 1981 wiedererrichteten Patriarchenkirche in einem Freskenzyklus (1985) nacherzählt. Foto: Cristina Andenna

 

„In diesem historischen Querschnitt der Ausflüge – von den römischen Ruinen in Sofia und Nikopolis, über die mittelalterlichen Kirchen bis hin zur jüngeren kommunistischen Vergangenheit – ist die bewegte Geschichte Bulgariens erkennbar geworden“, so Florian Höhs Fazit. Dies bestätigt auch Laura Luxenburger: „Es war sehr aufschlussreich, dass unser Programm epochenübergreifend war. Außerdem wird an historischen Orten und Stätten die Vergangenheit immer sehr viel greifbarer. Es ist etwas ganz Anderes, Orte wie die Kirche von Bojana wirklich zu sehen. Das hat eine völlig andere Wirkung als Bildern oder Filme“, sagt die Studentin, die Geschichte und Kunst auf Lehramt studiert. In Bulgarien waren alle Studierenden zum ersten Mal. „Bulgarien war mir zuvor nicht so präsent, auch historisch. Wenn ich mich mit Geschichte in Europa beschäftigt habe, lag der Fokus meist auf Zentraleuropa oder im Osten in Kleinasien oder Griechenland. Die Exkursion hat meinen Blick auf die europäische Geschichte erweitert“, schildert Batuhan Balkan.

 

Neben all diesen Eindrücken hatten die Studentinnen und Studenten auch eine waschechte wissenschaftliche Herausforderung zu meistern. Bei einer Konferenz über „Mythos und Wirklichkeit in Spätantike und Mittelalter – Antike Ursprünge und moderne Deutungen“ waren sie die Protagonisten: Sie hielten Vorträge und diskutierten über Mythen und Mythenrezeption in Antike, Mittelalter und Gegenwart. Das Thema Mythos wurde unter unterschiedlichen inhaltlichen, zeitlichen, räumlichen und methodischen Perspektiven beleuchtet: von den fränkischen Gründungsmythen und ihrem Bezug zu Troja bis hin zur Konstantinischen Schenkung.

 

Im Zuge der Konferenz wurde rege über Mythen und Mythenrezeption in Antike, Mittelalter und Gegenwart diskutiert. Foto: Florian Höh.

 

„Ich war vorher wirklich nervös. Schließlich hielten wir unsere Vorträge vor internationalem Publikum auf Englisch. Das war eine Herausforderung, aber auch ein echtes Privileg. Sich mit Studierenden und Dozenten aus anderen Universitäten so austauschen zu können, war wirklich bereichernd“, berichtet Lena Knaup. „Verschiedene Mythen aus unterschiedlichen zeitlichen und kulturellen Kontexten zu betrachten, hat mein Verständnis deutlich erweitert und vertieft“, sagt sie. Auch Batuhan Balkan pflichtet ihr bei: „Durch die Vorträge der Studierenden aus Prag und Sofia wurde mir klar, wie unterschiedlich Mythen verstanden und verarbeitet werden, obwohl die akademische Herangehensweise die gleiche ist. In den Arbeiten spiegelte sich der Einfluss der jeweiligen Kultur und des Hintergrundes, das war sehr interessant“, berichtet Batuhan Balkan. „Mir ist durch die Vorträge und Diskussionen bewusst geworden, wie vielfältig und vielschichtig das Thema ist und wie groß der Einfluss vergangener Mythen auf unsere heutige Gesellschaft tatsächlich ist“, betont Laura Luxenburger.

 

Ganz zentral aber war für die Studierenden die Begegnung mit den Wissenschaftlern und Studierenden aus Prag und Sofia. „Vor allem dieser Austausch mit Menschen aus anderen Kulturen und Ländern hat mich begeistert. Mit ihnen über Politik und kulturelle Unterschiede zu diskutieren, die Dinge auch einmal aus ihrer Perspektive zu betrachten, das erweitert die Sichtweise sehr“, sagt Laura Luxenburger. „Ich habe im Gespräch viel auch über das Studentenleben anderer Länder erfahren und wieder einige tolle Kontakte knüpfen können, das ist immer sehr positiv und bereichernd“, pflichtet ihr Studienkollege Florian Höh bei, der bereits vor zwei Jahren bei einer von Cristina Andenna angebotenen Exkursion in die italienische Städte Padua, Verona und Venedig Erfahrungen sammeln konnte. Und so trafen auch bei dieser Reise Kulturen zusammen – wie seit Jahrtausenden in Bulgarien.

 

Ermöglicht wurde die Exkursion durch eine an der Universität des Saarlandes angesiedelte Forschungskooperation, die der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) im Programm „Ostpartnerschaften“ finanziert und die in Zusammenarbeit mit Universitäten und Instituten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie im Kaukasus Forschung und Lehre fördert.

Text:Claudia Ehrlich
Claudia Ehrlich
22.11.2024
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An historischen Schauplätzen in die Geschichte eintauchen: Bei Exkursionen begegnen Historikerinnen und Historiker der Vergangenheit hautnah. Die Professorin für Geschichte des Mittelalters Cristina Andenna begab sich mit ihren Studierenden auch in Norditalien auf Spurensuche: Bibliotheken und Archive in Verona, Padua und Venedig waren im Wintersemester 2022/2023 ihr Ziel. (Foto: Sascha Keßler)