Kulturwissenschaften
Schwieriges Kulturerbe in der Großregion

Saarländische und bulgarische Studierende haben eine Woche lang dem materiellen Kunst- und Kulturerbe in der Großregion nachgespürt. Ihre interdisziplinäre Summer School verband Erinnerungstheorien mit Exkursionen, um unbequeme Wahrheiten aus der Vergangenheit erfahrbar zu machen.

Wer etwa vom Campus kommend an den Bushaltestellen „Johanneskirche“ oder „Rabbiner Rülf Platz“ aussteigt, läuft geradewegs durch Kunstwerke – und das womöglich, ohne sich dessen unbedingt bewusst zu sein: Das „Band der Erinnerung“ bei der Synagoge am Beethovenplatz (fertiggestellt 2022) wie auch der „Unterbrochene Wald“, der sich an der Berliner Promenade befindet (errichtet 2013), sind zwei Erinnerungsorte. Diese sind vielleicht so unscheinbar oder auch so selbstverständlich geworden sind, dass sie leicht übersehen werden können, obwohl sie sich inmitten der belebten Stadtlandschaft befinden.

Dies ist auch Emma Nachtwey und Marie-Christine Steil aufgefallen: Beide studieren den Bachelor Europawissenschaften im zweiten Semester und haben im vergangenen August mit rund 40 Studierenden der Saar-Universität sowie der bulgarischen Partneruniversität in Sofia an der interdisziplinären Summer School „Difficult Pasts in a Cross-Border Perspective: Challenges and Responses“ teilgenommen. „Durch unsere intensive Auseinandersetzung mit Konzepten der Erinnerungskultur entstanden völlig neue Perspektiven, die unser Bild von Saarbrücken und der Großregion verändert haben. Denkmäler, die im alltäglichen Stadtbild sonst eher untergehen, wurden nun besonders präsent“, erzählen die Studentinnen.

Kulturwissenschaftliche Theorien konnten die international gemischten Teams in die Praxis überführen, indem sie einige Gedenkorte und Mahnmale abliefen und „neu“ entdeckten. Im Vorfeld hatten sich die Studierenden dafür thematische Schwerpunkte ausgesucht und über die gesamte Woche hinweg ihre Eindrücke in einem „Fieldbook“ festgehalten und mit Fotos dokumentiert. Neben dem „Band der Erinnerung“ und dem „Unterbrochenen Wald“ besuchten sie auch das „Unsichtbare Mahnmal“ am Saarbrücker Schloss, das „Gestapo-Lager Neue Bremm“ sowie das „Ehrental“ im Deutsch-Französischen Garten. Sie untersuchten dort jeweils die didaktische Aufbereitung der Gedenkorte, die dissonante Erinnerung sowie die touristische Inwertsetzung.

Den kritischen Blick auf die im öffentlichen Raum sichtbar gemachte Erinnerung sieht Jonas Nesselhauf, Juniorprofessor in der Fachrichtung Kunst- und Kulturwissenschaften, als besonders spannend an, etwa hinsichtlich der „Stolpersteine“. „Die eigentlich unscheinbaren Steine werden schnell mal übergangen, doch wer ab und zu auf den Boden schaut, wird tatsächlich metaphorisch darüber stolpern – und das inzwischen fast in allen europäischen Ländern. Wir erfahren so im Vorbeigehen die Namen von vertriebenen und ermordeten Menschen, die in diesen Häusern gewohnt haben, und die sonst eine anonyme Zahl in der Statistik geblieben wären“, erläutert Jonas Nesselhauf.

Gemeinsam mit Joachim Rees, Professor der Kunstgeschichte an der Universität des Saarlandes, hat er die bulgarischen Kulturwissenschaftlerinnen Daniela Koleva und Slavka Karakusheva sowie ihren Kollegen Ivo Strahilov über die Hochschulallianz „Transform4Europe“ ins Saarland eingeladen. „Unser Fokus auf die Großregion SaarLorLux kann so erweitert werden um die Perspektive auf die östliche Balkanhalbinsel, mit einer seit der römischen Antike und besonders nach dem Osmanischen Reich eng verflochtenen, jedoch nicht immer aufgearbeiteten Geschichte,“ so Rees. „In beiden Regionen wird die Vergangenheit immer dann ‚problematisch‘, wenn Erinnerungsdiskurse nur national enggeführt werden.“

Den beiden Dozenten war es dabei wichtig, dass deutsche und bulgarische Studierenden mit ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven gemeinsam Fragestellungen entwickelten und ihre eigenständigen Forschungsergebnisse am Ende der Woche präsentierten und zur Diskussion stellten. Das kam auch bei Emma Nachtwey und Marie-Christine Steil gut an. Für sie wurde insbesondere die grenzüberschreitende Exkursion nach Metz zur bereichernden Fallstudie: „Nach Saarbrücken konnten wir so die wechselseitige Geschichte beider Städte näher kennenlernen, schließlich dient die Erinnerungskultur auch dazu, aus vergangenen Fehlern zu lernen und diese nicht zu wiederholen. Im europäischen Kontext sollte, gerade im Zusammenhang mit dem Zuwachs rechtspopulistischer Parteien, immer wieder auf diese düstere Vergangenheit hingewiesen werden.“

Die Studierenden erhielten zudem die Möglichkeit, sich mit der unbequemen Vergangenheit der Völklinger Hütte auseinanderzusetzen, die sonst weit über das Saarland hinaus als Weltkulturerbe und Ausstellungsstätte bekannt ist. Sie besuchten Führungen zur Geschichte der Unternehmerfamilie Röchling sowie zur Rolle von Frauen als „Erzengel“ und Kranführerinnen, die ihnen neue Blickwinkel auf den historischen Alltag der Hütte und die Geschichte der Großregion aus machtkritischer Perspektive eröffneten. Zudem lernten sie die vom französischen Künstler Christian Boltanski angelegte Installation zum Themenkomplex der Zwangsarbeit kennen. Hier konnten die Studierenden erleben, wie die räumliche Anordnung von Exponaten, die Verwendung verschiedener Medien und Materialien sowie kuratorische Entscheidungen dazu beitragen können, nicht nur Informationen zu vermitteln, sondern auch eine lebendige Verbindung zur Vergangenheit zu gestalten.

Der erfolgreiche Austausch mit der bulgarischen Partneruniversität soll fortgeführt werden – für den September 2024 ist eine Summer School in Sofia geplant, an der auch Studierende der Universität des Saarlandes teilnehmen können.

Text:Georgia Hanna Löw und Nadja Nesarajah (auch die Fotos stammen von ihnen)
Georgia Hanna Löw und Nadja Nesarajah (auch die Fotos stammen von ihnen)
12.12.2023
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