Europa-Gastprofessur
„Das Deutsch-Französische ist ein roter Faden in meinem Leben“

Die promovierte Politikwissenschaftlerin Claire Demesmay ist Expertin für die deutsch-französische Beziehung in der Europapolitik: Sie forscht über die politische Zusammenarbeit beider Länder, hat Politiker in Berlin und Paris beraten und war verantwortlich für interkulturelle Aus- und Fortbildungen. Als Europa-Gastprofessorin am Cluster für Europaforschung der Universität des Saarlandes will sie interkulturelle Kenntnisse und Hintergründe vermitteln. 

Claire Demesmay. Foto: DGAP

Claire Demesmay stammt aus dem Französischen Jura. „Ich wurde als Französin geboren“, erzählt sie. Doch vor fast zehn Jahren habe sie sich in Deutschland einbürgern lassen. „Seither bin ich Deutsch-Französin – und genauso fühle ich mich.“ Ihre Motivation: „politische Teilhabe und Identifikation mit beiden Ländern.“ Wie kam es dazu? „Ich habe politische Philosophie studiert; dabei muss man Kant lesen, und das war mein Sprung in die deutsche Sprache.“ Ihre Promotion wurde denn auch in einem so genannten Cotutelle-Verfahren gemeinsam durch Universitäten in Paris und Berlin betreut. „Das Deutsch-Französische ist ein roter Faden in meinem Leben“, resümiert Claire Demesmay, die vier Jahre an der TU Dresden tätig war und seit 2009 in Berlin lebt. Von den feinen Unterschieden zwischen Deutschland und Frankreich ist sie fasziniert. „Wir ticken unterschiedlich, betrachten die Welt durch unsere spezifischen Lesebrillen, und wir haben unterschiedliche Lösungsansätze“, hat sie beobachtet. Deshalb sei die Kompromisssuche zwischen beiden Ländern so wichtig: „Das ist mühsam, aber am Ende haben wir eine solide Lösung.“

Ihre Leidenschaft fürs Deutsch-Französische hat die Politikwissenschaftlerin zum Beruf  gemacht: Die deutsch-französische Politik ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte als assoziierte Forscherin am Centre Marc Bloch in Berlin, darüber hinaus war sie auch in der Politikberatung in den beiden Hauptstädten tätig: bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und im Institut français des relations internationales (Ifri) in Paris. „Diese beiden Pendant-Forschungsinstitute in Deutschland und Frankreich betreiben praxisorientierte Wissenschaft und beraten Verantwortliche in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in außenpolitischen Fragen.“ Als Expertin habe sie eine Vermittlerrolle gehabt. „Das macht Spaß und ist nicht nur sinnvoll, sondern unabdingbar“, betont sie. Und welche Erfahrungen nimmt sie daraus mit? – „Deutsche und Franzosen nehmen die internationale Politik unterschiedlich wahr, beispielsweise bezüglich des Umgangs mit Afrika, und es gibt große Unterschiede etwa bei wirtschaftlichen und energiepolitischen Fragen.“ Um Verhaltensweisen zu verstehen, müsse man hinter die Kulissen schauen. „Meine Aufgabe war es, die Hintergründe des jeweiligen Nachbarn zu erklären – denn wir haben unterschiedliche politische Kulturen, Denktraditionen und eine andere Geschichte.“ 

Ein Beispiel sei das unterschiedliche Zeitmanagement in der deutschen und französischen Politik, das seine Ursache in der jeweiligen Staatsstruktur habe: „Durch den Föderalismus in Deutschland dauern politische Entscheidungen länger als im zentralistischen Frankreich, wo die Macht in den Händen des Präsidenten liegt.“ Recht deutlich sichtbar seien die Unterschiede auch im Berufsleben, wo die Machtstrukturen jeweils andere seien: „In Deutschland sind die Hierarchien horizontaler ausgebildet als in Frankreich. Dort führen die stärker vertikal ausgeprägten Strukturen beispielsweise dazu, dass Verhandlungen um einiges konfrontativer ablaufen.“ 

Unterschiede gibt es auch bei den Wissenschafts-Kulturen beider Länder; bei ihrer eigenen Dissertation habe sie „zwischen den Stühlen“ gesessen, erinnert sich Claire Demesmay: „An der Sorbonne hieß es, dass ich mindestens tausend Seiten schreiben müsse, an der TU-Berlin wurde mir hingegen gesagt, dass die Arbeit auf keinen Fall länger als dreihundert Seiten sein sollte.“ Am Ende sei ein Kompromiss „in der Mitte“ gefunden worden.“ – „Das alles sind ungeschriebene Regeln, und sie zu kennen und zu verstehen, ist Interkulturalität“, erklärt die Gastprofessorin.

Am besten sind interkulturelle Erfahrungen durch den persönlichen Austausch. Gekoppelt mit Reflexion, sind solche Erfahrungen wichtig für den Umgang miteinander, und sie bringen unglaublich viel für die eigene Persönlichkeit und den Platz in der Gesellschaft.

Claire Demesmay

Diese Regeln zu vermitteln, sieht Claire Demesmay als Berufung an. Am besten seien interkulturelle Erfahrungen durch den persönlichen Austausch. Erfahren hat sie das beim Deutsch-Französischen Jugendwerk in Berlin, wo ihr Team eine Kinderkonferenz an einem See in Berlin organisierte, um Kinder für die Teilhabe und die Akzeptanz von Vielfalt zu sensibilisieren; ein andermal arbeitete sie mit Ausbildern zusammen, die mit Jugendlichen aus sozial benachteiligten Schichten beider Länder tätig waren. „Gekoppelt mit Reflexion, sind solche Erfahrungen wichtig für den Umgang miteinander, und sie bringen unglaublich viel für die eigene Persönlichkeit und den Platz in der Gesellschaft“, ist sie überzeugt. Bei einer Reise mit deutschen, französischen und bosnischen jungen Erwachsenen von Paris nach Sarajevo sei es darum gegangen, Kriegserfahrungen zu reflektieren. „Dabei sind die großen Fragen behandelt worden: ‚Wie kommt man zu Frieden? Was ist Versöhnung?‘“. 

Als Europa-Gastprofessorin in Saarbrücken hat die Politikwissenschaftlerin im Sommersemester unter anderem das Seminar „Akteure und Mechanismen der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Europapolitik“ angeboten. „Schwerpunkt war das Thema Kompromissbildung in der Politik, und ich hatte das Gefühl, dass die Thematisierung der politischen Dimension in der deutsch-französischen Zusammenarbeit für die Studierenden eine Bereicherung war“, sagt sie. Neben der Vermittlung von Sprache, Literatur und Kultur sei gerade für Studierende das Kennenlernen der unterschiedlichen politischen Kulturen wichtig. Um ihnen eine Gelegenheit zu geben, diese auch in der Praxis zu erfahren, hat die Dozentin im Dezember im Rahmen einer Tagesexkursion nach Paris Treffen mit politischen Akteuren organisiert. „Auf dem Programm standen Gespräche mit Schlüsselfiguren des deutsch-französischen und europäischen Dialogs – unter anderem an der deutschen Botschaft, der Nationalversammlung und dem französischen Außenministerium.“

Im Saarland ist die Deutsch-Französin sehr schnell angekommen: Hier gebe es eine „gemischte Kultur“, eine Synthese beider Länder. „Die Hybridität liegt in der Luft – diese hybride Identität bewusst zu erleben, ist toll.“ Den Saarländern sei diese Chance nicht immer bewusst. „Ich fühle mich hier sehr wohl. Für mich ist das Saarland ein Labor für Europa.“ In diesem Labor arbeiten zu können, begeistert sie: „Seit Anfang des Jahres leite ich die Expertenkommission, die im Auftrag der Staatskanzlei die Frankreichstrategie des Saarlandes evaluiert“, berichtet Claire Demesmay.

 

Weitere Infos zu Dr. habil. Claire Demesmay auf den Seiten des Centre Marc Bloch - Deutsch-Französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften, Berlin: https://cmb.hu-berlin.de/team/profil/claire-demesmay

Weitere Infos zur Europa-Gastprofessur unter: https://www.uni-saarland.de/einrichtung/ceus/europa-gastprofessur.html

Das neueste Buch von Claire Demesmay behandelt die Sprachpraktiken und Identitäten mobiler EU-Bürger anhand einer deutsch-französischen Fallstudie: https://www.peterlang.com/document/1349045

Text:Gerhild Sieber
02/08/2024 - 12:08
Gerhild Sieber
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