Portrait Ingolf Bernhardt: Jörg Pütz
Interview

Strahlung - die unsichtbare Unbekannte

Radioaktivität war nach ihrer Entdeckung in Mode. Es gab radioaktive Zahnpasta und Radium-Schokolade. Dass hier Gefahren lauern, wurde erst später bekannt. Aber wie gefährlich ist Strahlung? Laut einer Umfrage des Bundesamtes für Strahlenschutz hat jeder Zweite keine Ahnung von der Strahlenwirkung auf den Menschen. Ingolf Bernhardt, pensionierter Biophysik-Professor und früherer Leiter des Zentralen Isotopenlabors der Universität des Saarlandes, ist Experte für solche Fragen und war auch bei der Nuklearkatastrophe von Fukushima überregional gefragter Interviewpartner.
Von Claudia Ehrlich • 17.11.2021

Herr Professor Bernhardt, Länder wie Frankreich oder England setzen - im Gegensatz zum deutschen Sonderweg des Ausstiegs - auch in Zukunft auf Kernenergie. Wie kritisch sieht das ein Strahlenexperte?

Ingolf Bernhardt: Das ist eine sehr schwierige Frage. Einige Experten gehen davon aus, dass ohne Kernenergie die Klimaziele nicht erreicht werden können. Diese Meinung vertritt etwa die UN-Organisation UNECE (United Nations Economic Commission for Europe). Es könne nicht ein Kohleausstieg und gleichzeitig ein Ausstieg aus der Kernenergie erfolgen. Die Probleme der Kernenergie sind zum einen die ungelöste Endlagerung der hochradioaktiven Abfälle sowie zum anderen die Gefahren für uns Menschen und das Leben auf der Erde bei Unfällen von Atomkraftanlagen. Die Vertreter der Auffassung, dass es zumindest vorübergehend nicht ohne Energie aus Atomreaktoren geht, führen an, dass die Kernenergie unabhängig vom Wetter ist. Man stelle sich nur vor, dass sich, bedingt durch Vulkanausbrüche oder durch Meteoriteneinschläge, das Klima in Europa ändert, dass wir etwa ein halbes Jahr Winter haben. Ein anderes Problem ist die Tatsache, dass die Umstellung der Kraftfahrzeuge auf Elektroantrieb zu einem enormen Anstieg des Stromverbrauches führen wird.  
Die Strategie von Frankreich und wahrscheinlich der Mehrzahl der europäischen Länder, die Kernkraftwerke besitzen, ist es daher, die Entwicklung neuer Kernkraftwerks-Technologien voranzutreiben, die keinen radioaktiven Abfall hinterlassen. Außerdem soll die Größe dieser Anlagen derart verkleinert werden, dass das Risiko einer erhöhten Strahlenbelastung bei einem nuklearen Unglücksfall minimiert wird.

 

Wie ist Ihre persönliche Haltung dazu?

Ingolf Bernhardt: Meine Haltung dazu ist zweigeteilt. Einerseits glaube ich auch nicht, dass man in absehbarer Zeit genügend Strom nur auf der Basis erneuerbarer Energien für den wirtschaftlichen und privaten Bedarf bereitstellen kann, andererseits ist eine mögliche Erhöhung der Strahlungsdosis auf die Menschheit nicht akzeptabel. Es wird eine schwierige Zeit sein bis die Wasserstofftechnologie für den Kraftfahrzeugantrieb und die Kernfusion für die Bereitstellung ausreichender Mengen Energie zur Verfügung stehen. Es gibt aber auch schon Meinungen von Experten, die zu dem Schluss kommen, dass die Realisierung der Kernfusion auf der Erde eine Illusion bleiben wird.

 

Es gibt auch eine natürliche Strahlenbelastung. Welcher Strahlung sind wir alltäglich ausgesetzt?

Ingolf Bernhardt: Die Strahlenbelastung eines Menschen setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. Dazu zählt die natürliche Strahlenexposition, das heißt die Strahlenexposition, die bereits bei der Entstehung der Erde vorhanden ist und der auch schon die Urmenschen ausgesetzt waren. Die natürliche Strahlenexposition setzt sich aus kosmischer Strahlung, terrestrischer Strahlung - aus dem Boden -, der Nahrungsaufnahme - alle Lebensmittel enthalten Radionuklide - und der Belastung durch Radon und seiner Zerfallsprodukte zusammen. Radon entsteht durch den Zerfall von Uran, das seit der Entstehung der Erde vorhanden ist und den größten Anteil an der terrestrischen Strahlung ausmacht. Im Mittel bekommt ein Mensch in Deutschland 2,1 Millisievert (die Einheit ist Sievert, abgekürzt Sv) pro Jahr durch die natürliche Strahlenexposition ab. Dazu kommt die sogenannte zivilisatorische Strahlenexposition. die sich wiederum aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt, darunter Röntgendiagnostik, Nuklearmedizin, Forschung, Technik, Haushalt, kerntechnische Anlagen, Unglücksfälle in Atomanlagen bis hin zu Atombomben-Fallout. Im Mittel kommt dadurch eine zusätzliche Strahlenbelastung von 1,7 Millisievert pro Jahr zur natürlichen Strahlenexposition dazu, so dass die effektive Jahresdosis etwa bei vier Millisievert pro Jahr liegt.

 

Ab wann ist Strahlung für den Menschen gefährlich?

Ingolf Bernhardt: Jede Erhöhung über die normale vorhandene Strahlenbelastung hinaus ist für den Menschen in dem Sinne bedenklich, dass die Wahrscheinlichkeiten der Induktion eines Tumors und des Auftretens von negativen Effekten auf die Erbanlagen zunehmen. Dies spielt bei kleinen Dosen um ein Millisievert allerdings nur eine kleine Rolle, liegen doch andere Risiken - wie Todesfälle im Straßenverkehr - im gleichen Wahrscheinlichkeitsbereich.
Ab einer Dosis von einem Sievert allerdings wird es problematisch. Dann spricht man von einem akuten Strahlensyndrom. Die Ausprägung der Symptome ist abhängig von der Dosis, ab einer Dosis von sechs Sievert wird kaum ein Mensch überleben.
Verschiedene Teile und Organe unseres Körpers werden nicht gleichermaßen durch eine ionisierende Strahlung beeinflusst. Insbesondere Zellerneuerungssysteme, also blutbildendes System, Magen-Darm-Trakt, Haut und männliche Keimdrüsen, sowie Lymphozyten sind besonders betroffen.

 

Wie ist das mit Radon? Im Jahr 2020 hörte man viel davon, im Saarland lief auch eine Messkampagne des Umweltministeriums zur Radonkonzentration in Gebäuden. Aber es gibt ja auch Radontherapien oder Kuren, wie in den Heilstollen in Bad Kreuznach.

Ingolf Bernhardt: Obwohl, wie schon erwähnt, Radon und seine Folgeprodukte den größten Anteil an der natürlichen Strahlenexposition haben, wird es auch als Therapie bei verschiedenen Krankheiten eingesetzt. Es muss dabei vom Arzt abgeschätzt werden, ob eine Radontherapie zu einer merklichen Verbesserung der Leiden des Patienten führt, die bedeutsamer als das etwas erhöhte Risiko einer Tumorinduktion ist. Radontherapien kommen insbesondere bei Rheumaerkrankungen und degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparates sowie bei Erkrankungen der Atemwege und der Haut in Betracht. Dazu nutzt man Heilbäder und Heilstollen.

 

Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts war man, wie man in Ihrem Buch nachlesen kann, recht begeistert von der Radioaktivität. Auf welche Kuriositäten sind Sie bei Ihrer Recherche gestoßen? Was war für Sie besonders überraschend?

Ingolf Bernhardt: Ich habe viele kuriose radioaktive Produkte gefunden und in einem speziellen Kapitel des Buches zusammengefasst. Das Überraschende waren dabei nicht die vielen essbaren Produkte, sondern der Glaube, dass man ein Auto mit Nuklearantrieb in den Verkauf bringen kann. Ford hat bis Ende der 1950er Jahre ein Auto entwickelt, das eine Reichweite von 30.000 km haben sollte. Die Brennstäbe sollte der Fahrer an entsprechenden „Tankstellen“ selbst austauschen.

 

Was war Ihr Ziel, ein Buch über Strahlung zu schreiben?

Ingolf Bernhardt: Ich habe mich, basierend auf meiner Tätigkeit als Leiter eines Isotopenlabors, also eines Labors, in dem mit radioaktiven Stoffen gearbeitet wird, immer für die Problematik der Radioaktivität in der Umwelt und der Einwirkung von ionisierender Strahlung auf den Menschen interessiert. Diese Thematik ist auch Bestandteil der Biophysikausbildung. Während meiner aktiven Lehrtätigkeit habe ich daher neben der Vorlesung Membranbiophysik die Vorlesung Strahlenbiophysik gehalten. Außerdem war ich an der Vorlesung Biophysik beteiligt, die auch Kenntnisse der Wirkung nicht-ionisierender Strahlung, wie sie etwa beim Mobilfunk auftritt, vermittelt. Darüber hinaus wurde mir bewusst, dass das Verständnis von Problemen der Strahlenbelastung in der Bevölkerung nur marginal vorhanden ist. Mir kam es deshalb darauf an, ein allgemeinverständliches wissenschaftliches, also ein populärwissenschaftliches, Büchlein zu schreiben.

 

Sie erwähnen den Mobilfunk - auf diesen gehen Sie ja auch im Buch ein: Wie ist es mit der Handy-Strahlung? Gibt es dazu neue Erkenntnisse?

Ingolf Bernhardt: Handys haben eine Leistung von 0,5 – 2 W. Der SAR-Wert (am Kopf) für ein modernes Apple-i-Phone 11 beträgt 0,95 W/kg und für ein Samsung-i-Phone Galaxy S10 0,48 W/kg (der SAR-Grenzwert für Teilkörper = 2 W/kg). Beim Telefonieren kommt es zu einer nachweisbaren Erwärmung im Bereich des Kopfes. Ungeklärt ist die Frage, ob es nicht-thermische Effekte von Mobilfunk-Strahlung gibt. Man findet in der Literatur sowohl Untersuchungen, die keine nachweisbaren Effekte zeigen, als auch solche, die Effekte nachweisen.
Ein aktueller Aspekt ist die Einführung von 5G (steht für die fünfte Generation des Mobilfunks), wobei die Übertragungsfrequenz im Vergleich zur bisherigen deutlich erhöht ist. Elektromagnetische Felder hoher Frequenz sind sicher sinnvoll, um größere Datenmengen übertragen zu können, die Reichweite nimmt aber mit Zunahme der Frequenz ab. Dabei wird es erforderlich sein, mehr Basisstationen, also Funkmasten, zu installieren. Interessanterweise kann man die 5G-Sendestationen in kleinen Kästen, also weniger sichtbar als die Funkmasten, anbringen.

 

Schnurlose Telefone werden ja eher selten hinterfragt, aber gerade sie scheinen unterschätzt zu werden, was Strahlung angeht. Haben Sie zu Hause eine schnurlose Telefonanlage?

Ingolf Bernhardt: Ja, ich habe schnurlose Telefone in meinem Haus. Mir ist bewusst, dass es sich dabei wahrscheinlich um die stärkste Quelle hochfrequenter nicht-ionisierender elektromagnetischer Strahlung handelt. Der SAR-Wert (SAR – spezifische Absorptionsrate) dieser Geräte für den Kopf liegt bei 0,1 W/kg. Der gesetzlich festgelegte Grenzwert für einen Teilkörper beträgt 2 W/kg und ist damit unterschritten. Diese Telefone senden während eines Gespräches mit einer Leistung von ca. 0.01 W (im Ruhezustand von ca. 0,002 W, moderne Geräte können ihre Sendeleistung stufenweise dem Bedarf anpassen), erreichen aber selbst in 1,5 Metern Entfernung von der Feststation noch Werte von mehr als 1 µW pro Quadratzentimeter. Nach Auffassung von einigen Experten, zum Beispiel des Medizinphysikers Dr. L. von Klitzing, kann eine Strahlung dieser Stärke krank machen.

Professor Ingolf Bernhardt
Portrait: Jörg Pütz

Ingolf Bernhardt studierte Physik an der Lomonossow-Universität in Moskau und spezialisierte sich auf dem Gebiet der Biophysik. Nach erfolgreichem Abschluss arbeitete er im Institut für Biophysik an der Humboldt-Universität in Berlin. Der Promotion 1981 folgte 1986 die Habilitation. Sein wissenschaftliches Interesse galt der Erforschung der roten Blutzelle, insbesondere dem Ionentransport durch die Membran dieser Zelle. Mehrere Jahre leitete Ingolf Bernhardt das Isotopenlabor seines Instituts und hielt Vorlesungen zur Membranbiophysik sowie Strahlenbiophysik. Als Privatdozent wechselte er im Jahre 2000 an die Universität des Saarlandes, wo er bis zu seinem Rentenbeginn 2018 tätig war. Auch hier übernahm er die Leitung des Zentralen Isotopenlabors auf dem Campus Saarbrücken und stand einer Arbeitsgruppe Biophysik vor. 2002 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt.

Kürzlich ist ein weiteres Buch von Ingolf Bernhardt im Leipziger Universitätsverlag erschienen:

Ingolf Bernhardt: "Die Geheimnisse eines Wissenschaftlers zwischen Ost und West"
https://www.univerlag-leipzig.de/catalog/bookstore/author/1817-Ingolf_Bernhardt
ISBN: 978-3-96023-388-6

Vortrag im Wissenschaftsforum fällt aus

Der ursprünglich für den 23. November geplante Vortrag über „Radioaktivität in Natur, Technik und Medizin“ von Ingolf Bernhardt im Wissenschaftsforum der Universitätsgesellschaft wurde wegen der steigenden Corona-Infektionszahlen abgesagt. Der Vortrag wird zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt.

Buchcover: Leipziger Universitätsverlag

 

 

Zum Thema hat Ingolf Bernhardt ein Buch veröffentlicht. Es geht um Strahlung aller Art und ihre Wirkung auf den Menschen – sowohl radioaktiv als auch nicht-radioaktiv. Die Ausführungen zur radioaktiven Strahlung beinhalten die natürliche und die zivilisatorische Strahlenbelastung (unter anderem Radon in der Umwelt und in Wohnhäusern), die Strahlenexposition in der Medizin (insbesondere Röntgendiagnostik inklusive CT) sowie die Kontamination von Lebensmitteln. Auch die Unglücksfälle von Tschernobyl und Fukushima werden behandelt. Aber auch Kurioses stellt Bernhardt vor, wie radioaktive Schokolade, Hautcreme oder Zahnpasta. Darüber hinaus wird die Wirkung von konstanten elektrischen und magnetischen Feldern (zum Beispiel MRT) sowie nieder- und hochfrequenter elektromagnetischer nicht-ionisierender Felder (Mobilfunk) auf den Menschen beleuchtet.

„Strahlung, Schwingung, Umwelt, Mensch“, Leipziger Universitätsverlag
https://www.univerlag-leipzig.de/catalog/bookstore/author/1817-Ingolf_Bernhardt

ISBN: 978-3-96023-413-5

Umfrage zur Beurteilung des Strahlenrisikos

Durch radioaktive Strahlung, die von Kernkraftwerken ausgeht, fühlen sich

73,9 Prozent

der Befragten "sehr oder eher beunruhigt".

2019 veröffentlichte das Bundesamt für Strahlenschutz die Ergebnisse einer Umfrage zur Beurteilung des Strahlenrisikos. 73,9 Prozent gaben an, dass sie durch radioaktive Strahlung, die von Kernkraftwerken ausgeht, sehr oder eher beunruhigt sind. Etwas mehr als die Hälfte macht sich Sorgen um Strahlung von Mobilfunkmasten und Handys. Weniger als ein Viertel findet dagegen eine Belastung durch Radon problematisch. Etwa jeder Zweite hat keine Ahnung von der Strahlenwirkung auf den Menschen.

Quellennachweis
  • Bilder
    Portrait Ingolf Bernhardt: Jörg Pütz

    Portrait: Jörg Pütz

    Buchcover: Leipziger Universitätsverlag