
Der Code der Moral
Ein kleiner Bums am anderen Ende der Welt, der es normalerweise nicht einmal in die Nachrichtenspalte der Lokalzeitung geschafft hätte, sorgte Anfang März für weltweites Aufsehen: Im Schritttempo hat ein Auto in Kalifornien einen Linienbus gerammt. Ein paar Kratzer am Kotflügel des Busses waren das ganze Ausmaß der Tragödie. Es war aber nicht irgendein unaufmerksamer Fahrer, der einen Schulterblick vergessen hat. Bei dem Vorfall handelt es sich um den mutmaßlich ersten Unfall, den Googles selbstfahrendes Auto zumindest mitverursacht hat. Daraufhin hat das Internet-Unternehmen die Software des Fahrzeugs angepasst.
Schadenfrohe Geister können über das Missgeschick des Netzgiganten noch herzlich lachen. Man stelle sich aber vor, das Auto sei gezwungen gewesen zu entscheiden, ob es zwei spielenden Kindern ausweicht, die einem Ball auf der Straße hinterherjagen, oder ob es sie überfährt. „Wie soll sich das Auto verhalten: Überfährt es die Kinder, die sich nicht an die Straßenverkehrsordnung halten, oder weicht es aus und fährt vielleicht gegen den nächsten Baum und gefährdet so die Insassen, die sich im guten Glauben in das Auto gesetzt haben, dass der Computer, der das Auto steuert, ihnen die maximal mögliche Sicherheit bietet?“, fragt Kevin Baum. Der Philosoph und Informatiker hält es für unerlässlich, dass angehende IT-Spezialisten auch über solche Fragen nachdenken. „Oft verstehen sich Informatiker und Ingenieure als rein technische Problemlöser. Ob es moralisch bedenklich ist, das Problem zu lösen, ist vielen gar nicht bewusst“, erklärt der Wissenschaftler, der die Veranstaltung „Ethik für Nerds“ für Informatikstudenten der Saar-Uni mit ins Leben gerufen hat.
Nach aktuellen Beispielen muss er gar nicht lange suchen: „Da ist zum Beispiel der VW-Skandal. Am ‚Software-Doping‘ haben Ingenieure und Informatiker mitgearbeitet, die zumindest im Ansatz gewusst haben müssen, was sie da tun.“ Da sind auch die Enthüllungen von Edward Snowden: „Snowden wird von vielen als Held betrachtet, der die Machenschaften des Überwachungsstaates aufdeckt. Dass er durch seine Veröffentlichungen aber auch ganz konkret Menschenleben gefährden könnte, ist vielen nicht bewusst. Die geheimen Dokumente könnten natürlich auch Terroristen gezielt nutzen, um unentdeckt Anschläge zu planen und damit letztlich um Menschen umzubringen“, erläutert Kevin Baum.
Bisher machen sich nur wenige angehende Informatiker weitergehende Gedanken über die Folgen ihres Tuns
Kevin Baum
Überwachungstechnik, Gesundheitssektor, Automobilbau. Die Liste der IT-Baustellen, an denen sich ethische Probleme auftun, ließe sich beliebig verlängern. „Aber bisher machen sich nur wenige angehende Informatiker weitergehende Gedanken über die Folgen ihres Tuns. In der ersten Veranstaltung im vergangenen Jahr war fast allen Teilnehmern zum Beispiel nicht klar, was an einer flächendeckenden Überwachung mit Drohnen und Kameras an öffentlichen Plätzen problematisch sein soll“, berichtet Kevin Baum. Erst im Laufe der Veranstaltungen, nach vielen Diskussionen und Essays über Themen wie Fitnesstracker, Drohnen und Aufzeichnung des Internet-Verhaltens war den Jung-Informatikern bewusst, wo die ethischen Fallstricke solcher Technologien lauern. Gesundheitsdaten können missbraucht werden, um Nutzern, die sich nicht den gängigen Regeln gemäß verhalten, höhere Krankenkassenbeiträge aufzubrummen. Repressive Staatsführungen der Zukunft könnten beispielsweise alte Facebook-Gesprächsverläufe auswerten und schauen, wer vor ihrem Regierungsantritt öffentlich gegen sie gewettert hat.
So sprechen die Teilnehmer von „Ethik für Nerds“ beispielsweise darüber, ob es so etwas wie einen Hippokratischen Eid für Informatiker geben soll, der – ähnlich wie bei Ärzten – den Software-Spezialisten künftig einen moralischen Leitfaden an die Hand gibt, wenn sie vor derartigen Probleme stehen. In einem Fall wie dem von VW könnte eine Art übergeordnete Clearingstelle Abhilfe schaffen, an die sich Ingenieure und Informatiker anonym wenden können, ohne befürchten zu müssen, dass ihre Existenz auf dem Spiel steht. „Wir geben den Studenten einen Werkzeugkasten an die Hand, wie sie im späteren Berufsleben ethische Probleme der Informationstechnologie lösen können“, erklärt Baum. Vor allem eins müsse den Informatikern klar sein: „Die Studenten müssen sich daran gewöhnen, dass es auf eine ethische Frage – anders als in der IT oder im Ingenieurwesen – nicht unbedingt die eine klare Antwort geben kann.“ Ausgefeilte Algorithmen hin oder her, letzten Endes entscheidet dann doch nur einer: der Mensch.

Gemeinsam mit Professor Holger Hermanns (Informatik) ist Kevin Baum (Foto) für das Angebot „Ethik für Nerds“ an der Saar-Uni verantwortlich. Bereits im vergangenen Jahr gab es als Test ein Proseminar zum Thema. Der große Andrang und die durchweg positive Bewertung von Studenten und Dozenten gleichermaßen haben dazu geführt, dass im Sommersemester 2016 eine Vorlesung mit Übung daraus geworden ist, die fest ins Curriculum des Informatikstudiums aufgenommen wird. Kevin Baum hat Abschlüsse in Informatik und Philosophie. Derzeit promoviert er am Institut für Praktische Philosophie bei Professor Fehige.
- Bilder Sergey Nivens/fotolia Thorsten Mohr