
Sven Jungmann und Johanna Ludwig haben zusammen im Saarland studiert und nun ein Kartenspiel für Mediziner entwickelt.
Zusammen spielt man weniger allein
Das Medizinstudium ist ebenso begehrt wie gefürchtet: Es kommen dank bundesweitem Numerus clausus nur die Top-Abiturienten eines Jahrgangs rein, und im Studium selbst kommen die Studentinnen und Studenten zu nicht mehr viel, weil sie rund um die Uhr lernen müssen oder im Anatomiepraktikum über Wochen acht Stunden am Tag Leichen sezieren. Wer die Ochsentour sechs, sieben Jahre durchhält, wird am Ende mit einem meist abwechslungsreichen und interessanten Beruf belohnt. Reines Vergnügen ist die Studienzeit jedenfalls nicht.
So erlebten es auch Johanna Ludwig und Sven Jungmann. Die beiden lernen sich 2007 während ihres Medizinstudiums in Homburg an ebendiesem Anatomietisch kennen. „Wir wurden halt zufällig an dieselbe Leiche gewürfelt“, blickt Sven Jungmann auf den Moment zurück, an dem er seine Studienfreundin und heutige Geschäftspartnerin kennengelernt hatte. „Das Anatomiesemester ist sehr intensiv“, erinnert sich Johanna Ludwig an die Zeit. „Man kommt zu gar nichts mehr. Selbst der abendliche Einkauf wird zum Event.“ In dieser Situation habe Sven Jungmann dann irgendwann zu Johanna Ludwig und ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen am Seziertisch gesagt: „Alles klar, heute Abend gehen wir alle zum Klettern.“ Das war damals mehr freundlich formulierter Befehl als Bitte. Es war allen klar, dass sie dringend einen Ausgleich zum anstrengenden Tagesablauf brauchten.
Die Szene bringt gut zum Ausdruck, wie Johanna Ludwig und Sven Jungmann ihr Studium erlebt haben und warum daraus eine witzige nebenberufliche Idee wurde, die nun bald Wirklichkeit wird: ein Kartenspiel. „Wie kann es sein, dass wir jeden Tag stundenlang am Schreibtisch sitzen und dieses ganze Wissen für uns alleine auswendig lernen? Wir sind doch soziale Wesen, was soll der Quatsch?“, fragen sich die beiden. Sie wollten das ändern, zumindest in Teilen. Ein Kartenspiel, das gleichzeitig unterhaltsam und lehrreich ist, hielten sie für genau das Richtige, um geplagten, einsamen Studentenseelen angemessene Abwechslung zu verleihen.
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Wie kann es sein, dass wir jeden Tag stundenlang am Schreibtisch sitzen und dieses ganze Wissen für uns alleine auswendig lernen? Wir sind doch soziale Wesen, was soll der Quatsch?
Sven Jungmann und Johanna Ludwig über ihre Motivation, ein Kartenspiel für Medizinstudenten zu erfinden
„Asystole“ lautet der Titel des Kartenspiels, bei dem die Mitspieler medizinische Begriffe umschreiben müssen, ohne bestimmte andere Begriffe zu verwenden, die allzu offensichtlich auf den gesuchten Fachbegriff hinweisen. So muss ein Spieler zum Beispiel beim Begriff „Astigmatismus“, der eine krankhafte Veränderung der Hornhaut im Auge beschreibt, die Begriffe „Auge“, „Sehen“, „Laser“, „Verschwommen“ und „Brille“ vermeiden. Seine Mitspielerinnen und Mitspieler müssen den Begriff binnen einer gewissen Zeit erraten. Der Countdown wird vom berühmten „EKG-Piepen“ begleitet, wie es einem aus allen Krankenhausserien der Welt entgegenschallt. Von 60 Schlägen pro Minute – bip, bip, bip, bip – bis zur Nulllinie, wenn das Herz aufhört zu schlagen – biiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiip –, also in die Asystolie übergeht.
Insgesamt 800 Begriffe sind so zusammengekommen. Das ist viel lexikalisches Grundwissen, das die Studentinnen und Studenten ansonsten am einsamen Schreibtisch zuhause lernen müssen. Asystole, das im Februar im eigens gegründeten Verlags-Start-up „Luujuu“ auf den Markt kommen soll („Wir wollten es nicht so teuer machen für die Studenten“, sagt Johanna Ludwig), hat sich dabei in der Testphase äußerst erfolgreich geschlagen. „Wir haben das Spiel mit Studis getestet“, sagt die 34-Jährige. „Die wollten gar nicht mehr aufhören. Und am Ende haben sie auch über viele Begriffe diskutiert: ‚Ach, du merkst dir das so? Ich merke mir das immer so und so‘“, erzählt sie über ihre Beobachtungen. Die Studentinnen und Studenten hätten also tatsächlich auch viel gelernt.
Dabei verdanken sie und künftig möglicherweise Tausende weiterer Medizinstudenten in ganz Deutschland das unterhaltsame Lernspiel nicht nur der Tatsache, dass sich Sven Jungmann und Johanna Ludwig 2007 in Homburg zufällig über den Weg bzw. den Seziertisch gelaufen sind. Sven Jungmann hat es nach seinem Abschluss unter anderem zum Zweitstudium nach Oxford verschlagen, wo er noch „Public Policy“ studiert hat. „Mir war nach dem Studium schnell klar: Ich will eigentlich kein Arzt werden, auch wenn mir das Thema Gesundheit sehr am Herzen liegt“, sagt der 35-Jährige heute. Inzwischen ist er in Berlin als „Chief Medical Officer“ bei „Founders Lane“, einem jungen Unternehmen, das Start-ups aus den Bereichen Klima und Gesundheit bei der Etablierung auf dem Markt hilft. Zuvor war er bei einer Tochterfirma des Helios-Konzerns für den Aufbau digitaler Lösungen im Gesundheitswesen zuständig. Johanna Ludwig hingegen ist mit voller Überzeugung Ärztin geworden, genauer gesagt, Unfallchirurgin. Als Fachärztin arbeitet sie an einer Berliner Klinik, wo sie Unfallopfer versorgt – vom verunglückten Motorradfahrer bis hin zum übermütigen Hausbesitzer, der bei der Reinigung der Dachrinne von der Leiter gestürzt ist. Beide haben mehrere Stationen im In- und Ausland hinter sich. Als Johanna Ludwig dann vor vier Jahren nach Berlin kam, erinnerte sie sich daran, dass ihr Freund und Kommilitone Sven Jungmann inzwischen ebenfalls in der Hauptstadt gelandet war. In Windeseile war die frühere enge Freundschaft aus Homburger Tagen reaktiviert, und ebenso schnell war die Idee zu „Asystole“ geboren.
Eine Idee, die sich nicht nur für die Spielerinnen und Spieler selbst lohnen wird, so viel steht fest: „Medizin gilt als eine der einsamsten Professionen schlechthin“, weiß Sven Jungmann aus Untersuchungen zu berichten. Mit ihrem Spiel können sie diesen Trend, der schon im Studium beginnt, möglicherweise ein klein wenig verändern, so wie es sie selbst auch verändert hat. „Denn wir machen jeden Tag so hochtrabende Sachen, entwickeln die Medizin weiter“, sagt der Digitalisierungsexperte. „Aber mir ist bei ‚Asystole‘ richtig das Herz aufgegangen. Denn wenige Dinge machen mich so glücklich wie ein fertiges Werk, das ich am Ende des Tages in die Hand nehmen kann“, sagt Sven Jungmann. So wird die Ochsentour Medizinstudium doch noch ein wenig vergnüglicher – für Sven Jungmann und Johanna Ludwig vielleicht ein bisschen später als für künftige Spieler ihres Kartenspiels. Aber besser spät als nie.
Das Kartenspiel "Asystole" wird voraussichtlich ab Februar im Handel sein. Hier gibt es weitere Infos zum Spiel und die Möglichkeit, es zu bestellen: www.keinediagnosedurchhemdundhose.de.
- Bilder Alexander Klebe