
Früher war alles später
Der Druck ist höher auf seine Forschergeneration. Volker Presser (Jahrgang 1982) ist sich sicher: Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Professoren wie ihm und den früheren Forschergenerationen. „Up or out“, nach oben oder raus, ist ein Karrieremodell, das auch in der Wissenschaft zunehmend um sich greift – zum Teil auch zwangsläufig, da wissenschaftliche Karrieren unterhalb einer Professur dauerhaft kaum noch möglich sind, dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz sei Dank. Der Weg nach oben führt auf der wissenschaftlichen Karriereleiter vor allem über eines: Publikationen, und zwar möglichst hochrangige. „Heute publiziert man am besten schon während der Master-Arbeit“, erläutert der derzeit jüngste W3-Professor an der Saar-Uni. „Es herrscht schon unter Studenten ein großer Wettbewerb“, stellt Volker Presser fest.
Er selbst hat diesen Wettbewerb spätestens im vergangenen Jahr gewonnen, zumindest, was seine persönliche Existenz betrifft. Seit Ende 2015 ist er W3-Professor für Energie-Materialien an der Universität des Saarlandes und gleichzeitig Leiter des Programmbereichs Energie-Materialien am INM – Leibniz-Institut für neue Materialien. Er erforscht unter anderem, wie Batterien effizienter und schneller werden können und somit die Energiewende vorantreiben können. Damit hat er die prekären Verhältnisse, wie sie viele junge Wissenschaftler fürchten und auch erleben, endgültig hinter sich gelassen.
Uwe BellhäuserWenn mir vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, dass ich jedes Jahr 500.000 Euro Drittmittel einwerben muss, um relevante Forschung betreiben zu können, hätte ich vermutlich über diesen guten Scherz gelacht
Volker Presser
Aber auch mit einer gesicherten privaten Existenz ist im Beruf nicht alles eitel Sonnenschein: „Wenn mir vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, dass ich jedes Jahr 300-, 400-, 500.000 Euro Drittmittel einwerben muss, um relevante Forschung betreiben zu können, hätte ich vermutlich über diesen guten Scherz gelacht“, sagt Volker Presser. Heute sind die Forscher, zumal in den technisch-naturwissenschaftlichen Fächern, auf Drittmittel angewiesen, um international konkurrenzfähig bleiben zu können. „Früher waren die Professoren da sicherlich ein wenig unabhängiger“, glaubt Volker Presser. „Denn wie ich ein Thema tatsächlich unabhängig erforschen will, wenn die großen Drittmittelgeber das für nicht förderungswürdig halten, weiß ich auch nicht.“ Die Grundmittel ließen große Sprünge jedenfalls nicht zu.
Und neben dem Geld ist auch die Zeit ein limitierender Faktor heutzutage. „Wissenschaftler haben heute weniger Zeit, sich Gedanken zu machen über den Sinn ihrer Arbeit“, sagt Volker Presser. Das ist in technischen Disziplinen auch dem Fortschritt geschuldet. „Wenn eine Messung heute fünf Sekunden dauert, dann habe ich auch nur fünf Sekunden Zeit, darüber nachzudenken, ob die Messung eigentlich Sinn hat. Früher hat eine ähnliche Messung vielleicht vier Tage gedauert.“ Zeit genug, um vielleicht andere Lösungen in Betracht zu ziehen.
Dass das Wissenschaftlerdasein früher zeitlich entspannter war, sieht auch Jörg Siekmann so. Als Volker Presser seine Eltern nächtens vermutlich gerade zur Weißglut trieb, trat der gebürtige Bückeburger Siekmann 1983 seine erste Professur für Informatik in Kaiserslautern an. Der „68er“, Jahrgang 1941, weiß die Gnade der frühen Geburt für seine Wissenschaftskarriere zu schätzen: „Wir waren eine Luxusgeneration“, sagt der Experte für Künstliche Intelligenz. „Wir hatten keine Angst um unsere Zukunft, und niemand musste zwanghaft Karriere machen“, erinnert er sich an die Zeit, in der seine akademische Laufbahn Fahrt aufnahm.
Und die begann, vor allem nach heutigen Maßstäben, sehr spät: Als junger Mann machte er in den frühen 60er Jahren zuerst eine Lehre zum Tischlergesellen. Erst mit 28 Jahren holte der Spross einer Drechslerfamilie das Abitur nach. Sein anschließendes Studium in Göttingen (Mathematik, Physik „und ein bisschen Philosophie“) nahm er auf, weil er wissen wollte, „was die Welt zusammenhält. Es waren die Fächer, in denen die fundamentalen Fragen gestellt wurden“, sagt er. „Ich habe das nicht in erster Linie gemacht, um Karriere zu machen.“
Vielleicht war gerade dies das Geheimnis für Jörg Siekmanns Karriere: Sie nicht erzwingen zu wollen. Die Weichen dafür stellten sich in den frühen 1970er Jahren, als er zum Studium und zur Promotion an die Universität Essex ging. Als er dort in einer Vorlesung über KI (Künstliche Intelligenz) und Automatisches Beweisen erstmals mit dem Gedanken konfrontiert wurde, dass Maschinen wirklich denken können, war er hin und weg: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Die Vorstellung, dass Maschinen eine ähnliche Intelligenz wie Menschen entwickeln könnten, ließ ihn nicht mehr los: Der Gedanke traf in so sehr ins Mark, dass er seine damalige Verlobte in Berlin zurückließ und zur Promotion in England blieb.
DFKIWir waren eine Luxusgeneration. Wir hatten keine Angst um unsere Zukunft, und niemand musste zwanghaft Karriere machen
Jörg Siekmann
Die Verlobte ging, der Gedanke blieb. Er brachte ihn später mit zurück nach Deutschland, wo die Informatik durch den Zweiten Weltkrieg den Anschluss an die vor allem angelsächsische Forschung verloren hatte und die Künstliche Intelligenz gar nicht auf dem Schirm hatte. „Das ist ein gutes Beispiel, an dem man sieht, wie Wissenschaft funktioniert“, erklärt Jörg Siekmann. „Ein Lehrer hat seine Schüler, an die er sein Wissen weitergibt, diese wiederum geben ihr Wissen an ihre Schüler weiter. Wird diese Kette unterbrochen, wie etwa durch die Vertreibung der jüdischen Intelligenz durch die Nazis oder wie in China während Maos Kulturrevolution, ist das Wissen zunächst weg“, sagt der Seniorprofessor, der auch zehn Jahre nach seiner Pensionierung nicht an den Ruhestand denkt. Dank einer jungen Informatikergeneration, die ab 1970 aus England und den USA zurück nach Deutschland kam, konnte dieses Wissen wieder aufgebaut werden und so die intellektuelle Tradition der Vorkriegszeit fortsetzen. Es spiegelt sich heute unter anderem im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz DFKI wider, das Siekmann 1989 in Kaiserslautern mit begründet hat und dessen Direktor er anderthalb Jahrzehnte lang war. Heute ist es unter der Führung von Wolfgang Wahlster und den wissenschaftlichen Direktoren zum weltweit größten Institut zur KI-Forschung geworden.
Wäre im Jahr 2016 irgendwo da draußen ein junger Jörg Siekmann, Handwerker, Ende 20, der versuchen würde, eine ähnliche Laufbahn einzuschlagen, vermutlich würde er schon auf dem Weg dahin scheitern. Sein „hohes“ Alter von Mitte 30, wenn er schließlich sein Studium beendet hätte, die wenigen sicheren Stellen, der Publikationsdruck, Konferenzen, Drittmitteleinwerbung, all dies würde vermutlich dafür sorgen, dass er gar keine Zeit mehr hätte, um über die fundamentalen Zusammenhänge unserer Welt in Ruhe nachdenken zu können. Druck und Konkurrenz beleben zweifelsohne das Geschäft. Aber der heute junge Jörg Siekmann würde in 40 Jahren vielleicht seinen Enkeln die schöne Bank im Garten zeigen, die er für seine Meisterprüfung gemacht hätte. Durchs DFKI spazieren würden Enkel und Großvater aber sicherlich nicht.
Mehr über Jörg Siekmann: http://siekmann.dfki.de/de/startseite/
Mehr über Volker Presser: http://presser-group.com/
- Bilder were/photocase.de Uwe Bellhäuser DFKI